Schwurgericht rollt den Tod des ertrunkenen Leon auf
In St. Johann in Tirol ertrank ein behindertes Kind. War es ein Unglück nach einem Überfall, wie sein Vater beteuert, oder war es Mord, wie die Staatsanwaltschaft es sieht?
IN TIROL, INNSBRUCK. Knapp zwei Jahre ist es her, dass am Ufer der Kitzbüheler Ache in St. Johann in Tirol ein schwer behinderter Bub tot auf einer Sandbank aufgefunden wurde. Der damals sechs Jahre alte Leon war hilflos ertrunken. Ging die Polizei in den ersten Tagen nach dem dramatischen Geschehen am Sonntag, 28. August 2022, noch davon aus, dass der Vater des Kindes von einem unbekannten Räuber hinterrücks niedergeschlagen worden war, wendete sich etwa ein halbes Jahr später das Blatt: Unter dem Verdacht, der Vater habe den angeblichen Überfall auf ihn bei einem nächtlichen Spaziergang nur vorgetäuscht und in Wahrheit sein Kind in die damals Hochwasser führende Ache gestoßen und so dem Ertrinkungstod ausgeliefert, wurde der 39-Jährige in Untersuchungshaft genommen.
Im Frühjahr 2024 wurde der Mann wegen des Verdachts des Mordes sowie der Vortäuschung einer strafbaren Handlung angeklagt. Dagegen wurde kein Einspruch erhoben – um nicht weitere Zeit zu vergeuden, wie die Verteidiger Albert Heiss und Mathias Kapferer aus Innsbruck erklären. Und nicht etwa, weil die Vorwürfe berechtigt wären.
Ein Schwurgericht am Landesgericht Innsbruck soll in dem spektakulären Fall herausfinden, was in der verhängnisvollen Sommernacht, die Leon nicht überlebte, wirklich geschah. Der Prozess beginnt am Mittwoch und soll am Donnerstag dieser Woche fortgesetzt werden. Am 1. August könnte dann ein Urteil gesprochen werden.
Von der Tragödie um den kleinen Leon gibt es also bisher zwei Versionen. Die Wahrheit, wie sie der Vater beschrieb, lautet, dass er wie so oft nächtens mit dem Sohn im Kinderwagen spazieren gegangen sei, damit der wegen seiner Behinderung chronisch unruhige Bub etwas Ablenkung finde. Denn Leon habe es geliebt, am Wasser zu sein. Dann, so der Vater, sei er selbst mit einer Flasche von hinten niedergeschlagen worden und erst wieder aufgewacht, als ihn in der Früh ein Spaziergänger entdeckte.
Leon litt am Syngap-Syndrom, einem seltenen angeborenen Gendefekt. Dieser führt zum Beispiel zu massiven Entwicklungsstörungen in der Muskulatur und der Motorik sowie beim Spracherwerb. Auch autistische Züge sowie Schlafprobleme seien häufig, heißt es im Onlinelexikon Wikipedia zu der Krankheit.
Der Ablauf der Ereignisse, wie ihn mit dem Fall befasste Kriminalisten im Zuge der Ermittlungen rekonstruierten, stellt sich so dar: Der Vater des Buben habe die angebliche Tatwaffe, eine Flasche Hochriegl Frizzante Pink Hugo, selbst mitgebracht, sich damit oberflächliche Verletzungen am Kopf zugefügt, sie dann am Asphaltboden zerschlagen, ehe er sich auf den Gehweg gelegt und dort bis zu seiner Entdeckung verharrt habe.
Die Staatsanwaltschaft zählt auf, welcher Aufwand bei den Ermittlungen betrieben wurde. Es wurden mehr als 60 Personen befragt, direkte Zeugen gab es außer dem Kindsvater nicht. Rund 100 DNA-Spuren seien mit etwa 50 verschiedenen Personen abgeglichen worden. Es wurden mehrere Überwachungskameras ausgewertet, es wurde überprüft, welche Mobiltelefone zur Tatzeit in der Gegend des Tatortes eingeloggt waren, und es wurden neben Telefondaten auch elektronische Geräte des Vaters ausgewertet. Die Anklagebehörde nannte im Vorfeld keine Details, die zu ihren Schlussfolgerungen führten, um die Geschworenen nicht zu beeinflussen.
Von der Verteidigung hieß es, man werde mit einer umfangreichen Gegenäußerung in den Prozess starten. Es seien „verschiedene Beweisergebnisse nicht vollständig berücksichtigt bzw. zum Teil einseitig zulasten des Vaters gewürdigt“worden. Gleichzeitig wurde versichert, Leons Familie stehe trotz der belastenden Umstände weiter hundertprozentig hinter dem angeklagten Vater. „Sie sind überzeugt, er war es nicht!“, sagte ein Berater der Familie den SN.
Der Fall wird von großem Medieninteresse begleitet, auch aus Deutschland haben sich beim Landesgericht Innsbruck TVTeams angekündigt. Vorgesehen ist die Befragung von 26 Zeuginnen und Zeugen. Zudem sollen zwei Gerichtsmediziner, ein Psychiater und ein Datenforensiker ihre Expertisen darlegen.
„Die Familie steht weiter hundertprozentig hinter dem Vater.“Berater des Angeklagten