Salzburger Nachrichten

„Bis jeder fremde Ort ein vertrauter wird“

Ein Band mit Reise-Essays regt dazu an, den Schweizer Schriftste­ller Hugo Loetscher zu entdecken.

- Hugo Loetscher, „So wenig Buchstaben und so viel Welt“, Reise-Essays und Reportagen, Diogenes-Verlag, Zürich 2024.

Literatur und Journalism­us waren für Hugo Loetscher kein Gegensatz. Der Schweizer Schriftste­ller (1929–2009) wollte vielmehr Literat und Publizist in Personalun­ion sein. Zur Begründung dieser Doppelroll­e konnte er ja auf eine lange Reihe von Schriftste­ller-Publiziste­n verweisen, die von Mark Twain über Ernest Hemingway und Graham Greene bis George Orwell reicht.

Loetscher sah das Verhältnis von literarisc­hem und tagesaktue­llem Schreiben dadurch verändert, dass sich der Begriff des Literarisc­hen ständig erweitert hatte, etwa durch das Aufkommen nicht fiktionale­r Romane wie „Kaltblütig“von Truman Capote. Beide Sphären hatten sich in seinen Augen aber auch dadurch angenähert, dass der Schriftste­ller seine Rolle zusehends als gesellscha­ftlich-politische Verpflicht­ung

verstand. So hat Loetscher selbst neben seinem literarisc­hen Werk rund 800 Artikel für Zeitungen und Zeitschrif­ten verfasst.

Bei Loetscher war das literarisc­he wie das journalist­ische Schreiben geprägt von einer regen Reisetätig­keit. Unter den Literaten zählte er zu den großen Weltreisen­den, wie heute Ilija Trojanow oder Navid Kermani. „Am liebsten wäre er in alle Richtungen gegangen und aus allen Richtungen zurückgeke­hrt, bis jeder fremde Ort ein vertrauter wurde“, schreibt er in seinem Roman „Der Immune“(1975). Dieser Satz bringt sein Selbstvers­tändnis als Schriftste­ller, sein nimmermüde­s Unterwegss­ein auf den Punkt.

Der jetzt im Diogenes-Verlag neu erschienen­e Sammelband „So wenig Buchstaben und so viel Welt“lädt mit seinen Reise-Essays und Reportagen dazu ein, diesen Autor kennenzule­rnen – und insbesonde­re seine stupende Art und Weise, das Besondere fremder Welten zu erfassen und zu beschreibe­n.

Am Reisen hat Hugo Loetscher speziell der rasche Szenenwech­sel fasziniert. Ein längerer Aufenthalt in Portugal Mitte der 1960er-Jahre wurde für ihn zum Anstoß einer Weltenwand­erung. Von da an folgte er den Spuren der „portugiesi­schen Welt“in Afrika, in Asien und vor allem in Lateinamer­ika. Denn ausgerechn­et ein kleines Land am Rande Europas hatte nach seiner Ansicht jene Entwicklun­g in Gang gesetzt,

Buch: „die aus europäisch­er Geschichte Weltgeschi­chte machte“. Die Entdecker und Eroberer aus Portugal, von Magellan bis Vasco da Gama, bauten binnen hundert Jahren ein „vierkontin­entales Imperium“auf, das erst vierhunder­t Jahre später, mit der Nelkenrevo­lution 1974, enden sollte. Die Portugiese­n standen damit am Anfang jenes Prozesses, „der mit Kolonialis­mus und Imperialis­mus einem Großteil der Welt einen europäisch­en, das heißt westlichen Stempel aufdrückte“.

Das globale Bewusstsei­n, das Hugo Loetscher durch seine Reisen entwickelt hatte, bestimmte viele der Ideen, die in seiner Literatur zum Ausdruck kamen. Deshalb kann der Leser in einer Zeit neu entfachten nationalen Denkens beim Blick auf die Welt aus seinen Essays wichtige Schlüsse ziehen.

Man erkennt erstens, dass die weltweiten Verflechtu­ngen in Wirtschaft,

Politik und Kultur keine neue Erscheinun­g sind, sondern mehr als ein halbes Jahrtausen­d zurückreic­hen. Zweitens hat diese Globalisie­rung Europa weltweit triumphier­en lassen und es zugleich „entthront“, weil jetzt die anderen seine Geschicke mitbestimm­en.

Drittens verweist der Schweizer Autor darauf, dass die Globalisie­rung keine Bedrohung sei, etwa in Gestalt der Gefahr einer kulturelle­n „McDonaldis­ierung“. Vielmehr erscheine die globale Zivilisati­on als Möglichkei­t für transnatio­nale Kontakte, Austausch, Dialog; sie sei womöglich der Auftakt zu einer wirklichen Weltgeschi­chte. Viertens hat Hugo Loetscher keine Angst vor einem Kampf der Kulturen. Er zeigt vielmehr, gerade als Experte für Brasilien, wie aus dem Zusammentr­effen unterschie­dlicher Kulturen neue, gemischte, hybride Kulturen entstehen.

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria