„Bis jeder fremde Ort ein vertrauter wird“
Ein Band mit Reise-Essays regt dazu an, den Schweizer Schriftsteller Hugo Loetscher zu entdecken.
Literatur und Journalismus waren für Hugo Loetscher kein Gegensatz. Der Schweizer Schriftsteller (1929–2009) wollte vielmehr Literat und Publizist in Personalunion sein. Zur Begründung dieser Doppelrolle konnte er ja auf eine lange Reihe von Schriftsteller-Publizisten verweisen, die von Mark Twain über Ernest Hemingway und Graham Greene bis George Orwell reicht.
Loetscher sah das Verhältnis von literarischem und tagesaktuellem Schreiben dadurch verändert, dass sich der Begriff des Literarischen ständig erweitert hatte, etwa durch das Aufkommen nicht fiktionaler Romane wie „Kaltblütig“von Truman Capote. Beide Sphären hatten sich in seinen Augen aber auch dadurch angenähert, dass der Schriftsteller seine Rolle zusehends als gesellschaftlich-politische Verpflichtung
verstand. So hat Loetscher selbst neben seinem literarischen Werk rund 800 Artikel für Zeitungen und Zeitschriften verfasst.
Bei Loetscher war das literarische wie das journalistische Schreiben geprägt von einer regen Reisetätigkeit. Unter den Literaten zählte er zu den großen Weltreisenden, wie heute Ilija Trojanow oder Navid Kermani. „Am liebsten wäre er in alle Richtungen gegangen und aus allen Richtungen zurückgekehrt, bis jeder fremde Ort ein vertrauter wurde“, schreibt er in seinem Roman „Der Immune“(1975). Dieser Satz bringt sein Selbstverständnis als Schriftsteller, sein nimmermüdes Unterwegssein auf den Punkt.
Der jetzt im Diogenes-Verlag neu erschienene Sammelband „So wenig Buchstaben und so viel Welt“lädt mit seinen Reise-Essays und Reportagen dazu ein, diesen Autor kennenzulernen – und insbesondere seine stupende Art und Weise, das Besondere fremder Welten zu erfassen und zu beschreiben.
Am Reisen hat Hugo Loetscher speziell der rasche Szenenwechsel fasziniert. Ein längerer Aufenthalt in Portugal Mitte der 1960er-Jahre wurde für ihn zum Anstoß einer Weltenwanderung. Von da an folgte er den Spuren der „portugiesischen Welt“in Afrika, in Asien und vor allem in Lateinamerika. Denn ausgerechnet ein kleines Land am Rande Europas hatte nach seiner Ansicht jene Entwicklung in Gang gesetzt,
Buch: „die aus europäischer Geschichte Weltgeschichte machte“. Die Entdecker und Eroberer aus Portugal, von Magellan bis Vasco da Gama, bauten binnen hundert Jahren ein „vierkontinentales Imperium“auf, das erst vierhundert Jahre später, mit der Nelkenrevolution 1974, enden sollte. Die Portugiesen standen damit am Anfang jenes Prozesses, „der mit Kolonialismus und Imperialismus einem Großteil der Welt einen europäischen, das heißt westlichen Stempel aufdrückte“.
Das globale Bewusstsein, das Hugo Loetscher durch seine Reisen entwickelt hatte, bestimmte viele der Ideen, die in seiner Literatur zum Ausdruck kamen. Deshalb kann der Leser in einer Zeit neu entfachten nationalen Denkens beim Blick auf die Welt aus seinen Essays wichtige Schlüsse ziehen.
Man erkennt erstens, dass die weltweiten Verflechtungen in Wirtschaft,
Politik und Kultur keine neue Erscheinung sind, sondern mehr als ein halbes Jahrtausend zurückreichen. Zweitens hat diese Globalisierung Europa weltweit triumphieren lassen und es zugleich „entthront“, weil jetzt die anderen seine Geschicke mitbestimmen.
Drittens verweist der Schweizer Autor darauf, dass die Globalisierung keine Bedrohung sei, etwa in Gestalt der Gefahr einer kulturellen „McDonaldisierung“. Vielmehr erscheine die globale Zivilisation als Möglichkeit für transnationale Kontakte, Austausch, Dialog; sie sei womöglich der Auftakt zu einer wirklichen Weltgeschichte. Viertens hat Hugo Loetscher keine Angst vor einem Kampf der Kulturen. Er zeigt vielmehr, gerade als Experte für Brasilien, wie aus dem Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen neue, gemischte, hybride Kulturen entstehen.