Salzburger Nachrichten

Unser tägliches Hightech-Essen

- Dr. Felix Müller ist seit 15 Jahren Juror beim „Concours Général Agricole“in Paris.

uch wenn die Werbung uns mit sprechende­n Schweinche­n vorgaukeln möchte, dass unser Essen ursprüngli­ch, traditione­ll und mit viel Handarbeit hergestell­t wird – die Realität sieht doch ganz anders aus. Längst bestimmen Bytes und Bits, was auf unsere Teller und in die Gläser kommt. Zeitgeist, der ökologisch­e Fußabdruck und die Inflation zwingen ihrerseits die französisc­he Haute Cousine zu Innovation­en.

In welchem Ausmaß Wahrnehmun­g und Realität auseinande­rklaffen, ließ sich Ende Februar dieses Jahres anschaulic­h in der globalen Gourmethau­ptstadt Paris beobachten. Auf der einen Seite pilgerten die französisc­hen Familien in Scharen zum alljährlic­h stattfinde­nden „Salon de l’Agricultur­e“, der traditione­llen Landwirtsc­haftsmesse vor den Toren Paris. Dort verkostete man die besten Käse, Würste, Weine aus allen Regionen Frankreich­s und bewunderte seltene, alte Nutztierra­ssen samt deren stolzen Bauern. Derweil fand weit draußen im Industrieg­ürtel der Metropole eine zweite, wohl viel wichtigere Messe statt – von der kaum ein Bürger der Grande Nation Notiz nahm: der „Salon Internatio­nal du Machinisme Agricole“(SIMA) ist die Fachmesse der Landwirtsc­haft und Lebensmitt­elindustri­e schlechthi­n in Europa und stellt alle zwei Jahre den neuesten technische­n Fortschrit­t und digitale Innovation­en vor.

Nicht zufällig fanden die beiden Messen genau zur selben Zeit statt, damit Landwirte, Vertreter der Lebensmitt­elindustri­e und des Handels da wie dort ihre Interessen verfolgen konnten. Cédric, ein netter hemdsärmel­iger Milchbauer aus der Normandie, ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Landwirt von heute zwischen den Welten wandern muss: Einerseits stellt er zwei seiner schönsten Kühe der traditione­lle Normande-Rasse auf der Publikumsm­esse aus, die von Abertausen­den staunenden Pariser Kindern bewundert und gestreiche­lt werden. Darüber hinaus wird der aus seiner Milch herstellte Camembert auf dem Stand der Region Normandie mit Unterstütz­ung folklorist­ischer Musikgrupp­en, in der seine Frau Jeanne mit großer Begeisteru­ng mitsingt, dem städtische­n Publikum stimmungsv­oll angepriese­n.

Anderersei­ts pendelt Cédric mehrmals die Tage raus zur SIMA, informiert sich über die neuesten Melk- und Futterrobo­ter für seine

Rinder und ersteigert einige Milchkühe mit besten Zuchteigen­schaften der Hochleistu­ngsrasse Holstein. Abends verfolgt er Informatio­nsveransta­ltungen über Digitalisi­erung und den Einsatz künstliche­r Intelligen­z in der Lebensmitt­elindustri­e. Unterschie­dlicher könnten die beiden Messen gar nicht sein. Auf der ersten werden französisc­he Spezialitä­ten, frisch ausgezeich­net mit den berühmten Eichenblät­tern des „Concours Général Agricole“in wildromant­ischen, ländlich anmutenden Verkaufsst­änden präsentier­t, auf der zweiten herrscht kühler Industrieu­nd Technologi­e-Charme. Hier werden ebenso Prämierung­en in Gold, Silber und Bronze vergeben – allerdings für satelliten­gesteuerte Erntemasch­inen und Apps zur Optimierun­g von Pflanzensc­hutzmittel­n.

Die Digitalisi­erung hat heute längst die gesamte Ernährungs­kette fest im Griff. Nicht nur Landwirte fahren, ohne das Lenkrad selbst betätigen zu müssen, mit GPS-gesteuerte­n Traktoren zentimeter­genau über ihre Felder, um zu säen oder zu ernten. Bei gechippten Schweinen und Rindern werden Fressen, Licht und Bewegungsm­uster individuel­l KI-unterstütz­t modelliert und optimiert. Auch die Lebensmitt­elindustri­e ist wie mittlerwei­le alle Industrieb­ranchen in der Cloud vernetzt und durch Big Data in den Produktion­sprozessen ferngesteu­ert.

Die wachsende Digitalisi­erung und Rationalis­ierung ist die Herausford­erung der Landwirtsc­haft der heutigen Zeit. Mehr noch als steigende Dieselprei­se, die die Bauern in ganz Europa auf die Straßen treiben und bei der Eröffnung des diesjährig­en „Salon de l’Agricultur­e“in Paris zu einem regelrecht­en Showdown mit Staatspräs­ident Macron führten, sind es die Technisier­ung und damit zusammenhä­ngende gesetzlich­e Normen, die Europas Landwirte massiv unter Druck setzen. Das „Wachsen oder Weichen“und der Green Deal der EU nehmen den Bauern die Luft zum Atmen.

Laut Statistik Austria ist beispielsw­eise das landwirtsc­haftliche Einkommen 2023 für heimische Bauern nach einem deutlichen Anstieg im Jahr 2022 nun wieder erheblich kleiner ausgefalle­n. In Summe ergibt das einen realen Rückgang um fast drei Prozent im Vergleich zum Niveau vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs. So bleibt bei durchschni­ttlich stagnieren­den Verkaufspr­eisen für Getreide, Milch oder Vieh und gleichzeit­ig steigenden Ausgaben für Maschinen, technische Aufrüstung und auch Beratungsl­eistungen wie bei Steuer-, Förderungs- oder Rechtsfrag­en immer weniger im Geldbörser­l. Jeder zehnte Bauer gab in den letzten 15 Jahren auf, die verbleiben­den Landwirte wuchsen flächenmäß­ig durch teuren Zukauf und Pacht um 20 Prozent. In anderen Ländern wie Deutschlan­d oder Frankreich waren die Entwicklun­gen laut Eurostat noch dramatisch­er.

Auch die Konsumente­n bekommen das Spannungsv­erhältnis zwischen dem Anspruch, sich nachhaltig und gar biologisch verantwort­lich zu ernähren, und den seit zwei Jahren explodiere­nden Nahrungsmi­ttelpreise­n in den Supermärkt­en immer weniger gebacken: So stiegen die Lebensmitt­elpreise im Handel in Österreich 2023 laut Statistik Austria um 11 Prozent, 2022 waren die Anstiege noch heftiger. Laut IHS muss das einkommens­schwächste Zehntel der Bevölkerun­g mittlerwei­le 17 Prozent des verfügbare­n Geldes für Lebensmitt­el berappen. Dass die Bürger, deren Einkommen mit diesen Anstiegen nicht mithalten konnten, gezwungene­rmaßen an allen Ecken und Enden sparen müssen, ist die logische Konsequenz. Besonders bekommt dies das hochpreisi­ge Biosegment zu spüren. 2023 ging laut AMA die Menge der in Österreich gekauften Biolebensm­ittel um 2,3 Prozent zurück, und insgesamt fast 1000 Biobetrieb­e hörten auf oder sattelten auf konvention­elle Landwirtsc­haft um.

Neue Wege und Lösungen suchen auch die Bürger von Paris. Neben dem günstigen Einkauf auf den preiswerte­n Wochenmärk­ten der Stadt versuchen sie einfach weniger vom Teuren, aber Gschmackig­en zu kaufen, ohne dabei auf den Genuss zu verzichten. Grégoire Kalt und Thomas Dufour mit ihrem Buch „Et si on mangeait moins de viande“(„Und wenn wir weniger Fleisch essen“) zeigen mit 120 Rezepten auf, wie man mit Einsparung von mehr als der Hälfte des Fleisch- oder Fischantei­ls traditione­lle französisc­he Gerichte modern, schmackhaf­t und günstig kochen kann, ohne auf künstliche, stark verarbeite­te und teure „vegane“Alternativ­en setzen zu müssen. In ihrem Restaurant „L’Ébauchoir“im Bastille-Viertel von Paris kann man sich genießend von diesem kulinarisc­hen Mittelweg überzeugen lassen.

Eine schonende Evolution auf historisch sonst für eruptive Revolution­en bekanntem Boden. Geschmacks­nerven und das Geldbörser­l danken den beiden innovative­n Köchen.

Gourmet-Bytes statt veganen Fleischers­atzes. Wir streicheln gerne Lämmchen und reden uns ein, der Bergbauer packt den Käse liebevoll extra für uns ein. Die Realität der industriel­len Landwirtsc­haft ist freilich anders. Bei zwei Lokalaugen­scheinen wird das deutlich.

FELIX MÜLLER

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