Unser tägliches Hightech-Essen
uch wenn die Werbung uns mit sprechenden Schweinchen vorgaukeln möchte, dass unser Essen ursprünglich, traditionell und mit viel Handarbeit hergestellt wird – die Realität sieht doch ganz anders aus. Längst bestimmen Bytes und Bits, was auf unsere Teller und in die Gläser kommt. Zeitgeist, der ökologische Fußabdruck und die Inflation zwingen ihrerseits die französische Haute Cousine zu Innovationen.
In welchem Ausmaß Wahrnehmung und Realität auseinanderklaffen, ließ sich Ende Februar dieses Jahres anschaulich in der globalen Gourmethauptstadt Paris beobachten. Auf der einen Seite pilgerten die französischen Familien in Scharen zum alljährlich stattfindenden „Salon de l’Agriculture“, der traditionellen Landwirtschaftsmesse vor den Toren Paris. Dort verkostete man die besten Käse, Würste, Weine aus allen Regionen Frankreichs und bewunderte seltene, alte Nutztierrassen samt deren stolzen Bauern. Derweil fand weit draußen im Industriegürtel der Metropole eine zweite, wohl viel wichtigere Messe statt – von der kaum ein Bürger der Grande Nation Notiz nahm: der „Salon International du Machinisme Agricole“(SIMA) ist die Fachmesse der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie schlechthin in Europa und stellt alle zwei Jahre den neuesten technischen Fortschritt und digitale Innovationen vor.
Nicht zufällig fanden die beiden Messen genau zur selben Zeit statt, damit Landwirte, Vertreter der Lebensmittelindustrie und des Handels da wie dort ihre Interessen verfolgen konnten. Cédric, ein netter hemdsärmeliger Milchbauer aus der Normandie, ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Landwirt von heute zwischen den Welten wandern muss: Einerseits stellt er zwei seiner schönsten Kühe der traditionelle Normande-Rasse auf der Publikumsmesse aus, die von Abertausenden staunenden Pariser Kindern bewundert und gestreichelt werden. Darüber hinaus wird der aus seiner Milch herstellte Camembert auf dem Stand der Region Normandie mit Unterstützung folkloristischer Musikgruppen, in der seine Frau Jeanne mit großer Begeisterung mitsingt, dem städtischen Publikum stimmungsvoll angepriesen.
Andererseits pendelt Cédric mehrmals die Tage raus zur SIMA, informiert sich über die neuesten Melk- und Futterroboter für seine
Rinder und ersteigert einige Milchkühe mit besten Zuchteigenschaften der Hochleistungsrasse Holstein. Abends verfolgt er Informationsveranstaltungen über Digitalisierung und den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Lebensmittelindustrie. Unterschiedlicher könnten die beiden Messen gar nicht sein. Auf der ersten werden französische Spezialitäten, frisch ausgezeichnet mit den berühmten Eichenblättern des „Concours Général Agricole“in wildromantischen, ländlich anmutenden Verkaufsständen präsentiert, auf der zweiten herrscht kühler Industrieund Technologie-Charme. Hier werden ebenso Prämierungen in Gold, Silber und Bronze vergeben – allerdings für satellitengesteuerte Erntemaschinen und Apps zur Optimierung von Pflanzenschutzmitteln.
Die Digitalisierung hat heute längst die gesamte Ernährungskette fest im Griff. Nicht nur Landwirte fahren, ohne das Lenkrad selbst betätigen zu müssen, mit GPS-gesteuerten Traktoren zentimetergenau über ihre Felder, um zu säen oder zu ernten. Bei gechippten Schweinen und Rindern werden Fressen, Licht und Bewegungsmuster individuell KI-unterstützt modelliert und optimiert. Auch die Lebensmittelindustrie ist wie mittlerweile alle Industriebranchen in der Cloud vernetzt und durch Big Data in den Produktionsprozessen ferngesteuert.
Die wachsende Digitalisierung und Rationalisierung ist die Herausforderung der Landwirtschaft der heutigen Zeit. Mehr noch als steigende Dieselpreise, die die Bauern in ganz Europa auf die Straßen treiben und bei der Eröffnung des diesjährigen „Salon de l’Agriculture“in Paris zu einem regelrechten Showdown mit Staatspräsident Macron führten, sind es die Technisierung und damit zusammenhängende gesetzliche Normen, die Europas Landwirte massiv unter Druck setzen. Das „Wachsen oder Weichen“und der Green Deal der EU nehmen den Bauern die Luft zum Atmen.
Laut Statistik Austria ist beispielsweise das landwirtschaftliche Einkommen 2023 für heimische Bauern nach einem deutlichen Anstieg im Jahr 2022 nun wieder erheblich kleiner ausgefallen. In Summe ergibt das einen realen Rückgang um fast drei Prozent im Vergleich zum Niveau vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs. So bleibt bei durchschnittlich stagnierenden Verkaufspreisen für Getreide, Milch oder Vieh und gleichzeitig steigenden Ausgaben für Maschinen, technische Aufrüstung und auch Beratungsleistungen wie bei Steuer-, Förderungs- oder Rechtsfragen immer weniger im Geldbörserl. Jeder zehnte Bauer gab in den letzten 15 Jahren auf, die verbleibenden Landwirte wuchsen flächenmäßig durch teuren Zukauf und Pacht um 20 Prozent. In anderen Ländern wie Deutschland oder Frankreich waren die Entwicklungen laut Eurostat noch dramatischer.
Auch die Konsumenten bekommen das Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch, sich nachhaltig und gar biologisch verantwortlich zu ernähren, und den seit zwei Jahren explodierenden Nahrungsmittelpreisen in den Supermärkten immer weniger gebacken: So stiegen die Lebensmittelpreise im Handel in Österreich 2023 laut Statistik Austria um 11 Prozent, 2022 waren die Anstiege noch heftiger. Laut IHS muss das einkommensschwächste Zehntel der Bevölkerung mittlerweile 17 Prozent des verfügbaren Geldes für Lebensmittel berappen. Dass die Bürger, deren Einkommen mit diesen Anstiegen nicht mithalten konnten, gezwungenermaßen an allen Ecken und Enden sparen müssen, ist die logische Konsequenz. Besonders bekommt dies das hochpreisige Biosegment zu spüren. 2023 ging laut AMA die Menge der in Österreich gekauften Biolebensmittel um 2,3 Prozent zurück, und insgesamt fast 1000 Biobetriebe hörten auf oder sattelten auf konventionelle Landwirtschaft um.
Neue Wege und Lösungen suchen auch die Bürger von Paris. Neben dem günstigen Einkauf auf den preiswerten Wochenmärkten der Stadt versuchen sie einfach weniger vom Teuren, aber Gschmackigen zu kaufen, ohne dabei auf den Genuss zu verzichten. Grégoire Kalt und Thomas Dufour mit ihrem Buch „Et si on mangeait moins de viande“(„Und wenn wir weniger Fleisch essen“) zeigen mit 120 Rezepten auf, wie man mit Einsparung von mehr als der Hälfte des Fleisch- oder Fischanteils traditionelle französische Gerichte modern, schmackhaft und günstig kochen kann, ohne auf künstliche, stark verarbeitete und teure „vegane“Alternativen setzen zu müssen. In ihrem Restaurant „L’Ébauchoir“im Bastille-Viertel von Paris kann man sich genießend von diesem kulinarischen Mittelweg überzeugen lassen.
Eine schonende Evolution auf historisch sonst für eruptive Revolutionen bekanntem Boden. Geschmacksnerven und das Geldbörserl danken den beiden innovativen Köchen.
Gourmet-Bytes statt veganen Fleischersatzes. Wir streicheln gerne Lämmchen und reden uns ein, der Bergbauer packt den Käse liebevoll extra für uns ein. Die Realität der industriellen Landwirtschaft ist freilich anders. Bei zwei Lokalaugenscheinen wird das deutlich.
FELIX MÜLLER