Salzburger Nachrichten

Der Experte für Zufall ist tot

Paul Auster ist am Dienstag an den Folgen einer Krebserkra­nkung im Alter von 77 Jahren in New York gestorben.

- ANTON THUSWALDNE­R

Weil der Zufall eine so große Rolle in seinem Leben spielte, baute Paul Auster ihn als dramaturgi­sches Element in seine Bücher ein. In „Das rote Notizbuch“(1995) versammelt er Episoden aus seinem Leben, die davon Rechenscha­ft ablegen, dass nichts, was geschieht, notwendig ist. Eine Offenheit zeichnet diese Haltung aus, die – am Soziologen Niklas Luhmann geschult – davon ausgeht, dass jede Biografie unter dem Zeichen der Ungewisshe­it steht. Vier Mal, erzählte Auster, habe er eine Reifenpann­e gehabt, jedes Mal sei der gleiche Freund am Beifahrers­itz gesessen. Prägend war das Erlebnis des jungen Paul Auster in einem Ferienlage­r. Als ein Gewitter aufzog, liefen alle Kinder zurück zu ihrer Sammelstel­le. Ein Bub, der unter einem Stacheldra­htzaun durchkroch, wurde von einem Blitz erschlagen. Eigentlich hätte es ihn erwischen können, sagte der Erwachsene später, es sei Zufall, dass er lebe, das andere Kind nicht.

In seinem Roman „4 3 2 1“(2017) erhebt er die Idee des Zufalls zum künstleris­chen Prinzip. Im Mittelpunk­t steht Archie Ferguson, dessen Leben in vier Versionen erzählt wird. Die Figur, einen Monat älter als der Verfasser, teilt einige von dessen Lebensumst­änden. Ein Mensch entwickelt sich unter jeweils verschiede­nen äußeren Umständen anders. Der Gedanke, wie für jemanden „alles anders sein könnte, auch wenn er selbst immer derselbe bliebe“, leitet den Roman. So schlägt Ferguson einmal den Weg des bürgerlich­en Aufstiegs ein, ein anderes Mal scheitert er, weil er

im Konflikt mit seiner Umwelt zerrieben wird, im dritten Fall läuft vieles schief, bis sich ein Außenseite­r zu konsolidie­ren beginnt, in der vierten Version sehen wir einen, der sich selbst als „Held seines eigenen Lebens“sieht und Schriftste­ller

wird. Ein Leben ist das Ergebnis von Möglichkei­ten und Entscheidu­ngen, vorbestimm­t ist nichts.

Im Alter von vierzig Jahren schaffte Auster den Durchbruch mit der „New-York-Trilogie“. Damit wurde er zu einer herausrage­nden Gestalt der postmodern­en Literatur, die in den achtziger Jahren einen Neuansatz wagte: ein Spiel mit Wirklichke­it und Fiktion. Die Großstadt bei Auster gibt keinen festen Rahmen mehr wie im klassisch realistisc­hen Roman. Zeichen von Verfall und Auflösung finden sich überall. Das betrifft auch die Figuren, die sich damit abfinden müssen, einer klaren Identität verlustig gegangen zu sein. Das sieht man am ersten Teil der Trilogie, „Stadt aus Glas“, in dem der Schriftste­ller Daniel Quinn, spezialisi­ert auf Detektivro­mane, mit einem Privatdete­ktiv

verwechsel­t wird, der Paul Auster heißt. Er nimmt den Auftrag an, einen dubiosen Religionsf­orscher zu observiere­n, und geht allmählich seiner Sicherheit­en verloren. Was bleibt ihm? Ein rotes Notizbuch.

Zur postmodern­en Literatur gehören Anspielung­en und Verweise, Motive werden variiert, Plausibili­tät ist nicht zwingend. Die Tradition des Absurden schlägt immer wieder durch. Das macht das Werk Paul Austers so reich: Man kann daraus spannende Geschichte ziehen, zugleich vermittelt die Lektüre eine Fülle von Motiven aus amerikanis­cher und europäisch­er Kultur.

Politisch hat sich Paul Auster positionie­rt. Mit Trump rechnet er scharf ab: „Ich ertrage den Mann nicht“, sagte er. „Er hat ein Vokabular von 16 Wörtern, sagt jeden Satz doppelt und jeder ist gelogen.“

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Paul Auster (1947–2024).

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