Erinnerung, lass nicht nach
Wo Yuliia Kravchenko ihre Kindheit verbracht hat, rauscht Wasser. Ein Staudamm explodiert, Menschen hoffen auf Hilfe und dass bis dahin der zweite Stock reicht.
SALZBURG, KIEW. Manchmal hätten sie schon im Mai im Fluss gebadet, sagt Yuliia Kravchenko. Sie hätten Krebse aus dem Fluss getaucht und sie gegrillt. Es seien da viele Inseln gewesen, Filme wurden am Ufer unter freiem Himmel gezeigt. Ihr Elternhaus am Ufer des Dnipro sei ihr eine wertvolle Erinnerung. Nun hat Wasser die Räume geflutet, umspült die Wände und füllt alle Einschusslöcher. Das Haus war unbewohnt, die Familie längst vor dem Krieg geflohen.
„Die Gebäude sind nicht so wichtig“, sagt Yuliia Kravchenko. „Die kann man sanieren. Aber die Menschen dort.“Sie blickt erneut nervös auf ihr Telefon. Kravchenko nimmt derzeit an einer Konferenz in Salzburg teil. Es geht um Zukunftsperspektiven für die Ukraine, um Pläne der Zivilgesellschaft für den Tag, an dem der Krieg zu Ende ist. Doch ein Ende ist nicht in Sicht, die neue Wendung allen ukrainischen Konferenzteilnehmern am Dienstagmorgen ins Gesicht geschrieben: Der drei Kilometer lange Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine ist zur Hälfte eingebrochen, er stürzt weiter ein. Die Fluten sind nicht zu kontrollieren. In der Stadt Nowa Kachowka, die direkt am Staudamm liegt, riefen die russischen Besatzer am Dienstag den Notstand aus, das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen. 80 Ortschaften liegen im Überschwemmungsgebiet, etwa 20.000 Menschen sind dadurch bedroht. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.
„Die Menschen wurden aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen oder sich mit Essen an den höchsten Punkten ihrer Häuser zu verschanzen und auf Hilfe zu warten“, schildert Kravchenko, deren Hilfsorganisation bisher Menschen in der okkupierten Region mit dem Notwendigsten
versorgt hat. Das Ausmaß der Katastrophe ist noch nicht abzusehen. Zudem schürt es die Sorge um die Sicherheit von Europas größtem Atomkraftwerk in Saporischschja. Es liegt 150 Kilometer flussaufwärts und wird derzeit von
Russland kontrolliert. Der Wasserspiegel im Reservoir des Dnipro sinkt, aus dem das AKW sein Kühlwasser bezieht. Die UN-Atomaufsicht IAEA beruhigte: Das Wasser aus dem Reservoir reiche noch für einige Tage, sagt Rafael Grossi, Chef der Behörde. Außerdem stehe ein Kühlbecken neben dem AKW-Gelände zur Verfügung, das weiteres Wasser für einige Monate enthalte. Es sei aber unerlässlich, dass dieses Kühlbecken intakt bleibe.
Beide Kriegsparteien warfen einander vor, den von Russland kontrollierten Damm in der Nacht zuvor gesprengt zu haben. „Für Russland läuft es nicht gut, die Frontlinien verschieben sich“, sagt Yuliia Kravchenko. „Die Brücke über den Dnipro wurde von den Russen genutzt, um Technik und Militärfahrzeuge über die Brücke zu bringen, als sie Cherson besetzt hatten. Jetzt dreht sich das Blatt und man fürchtet, dass die Ukrainer sie in die Gegenrichtung nutzen.“
Besonders um die Menschen auf der besetzten Seite des DniproFlusses sorgt sich Ella Lamakh, die ebenfalls in Salzburg weilt, aber aus dem Oblast Cherson stammt. Sie hat soeben ein Telefonat beendet und Neuigkeiten: „Die Evakuierungen auf der befreiten Seite des Dnipro sind in vollem Gange. Aber wir hören, dass die Menschen auf der besetzten Seite keine Hilfe erhalten. Sie wollen weg, werden aber an russischen Checkpoints abgewiesen. Man will sie nicht rauslassen.“Lamakh mutmaßt, dass die ukrainischen Bewohner dort als Schutzschild dienen. „Solange sie dort leben, wird die Ukraine dieses Territorium nicht angreifen.“
Der Kachowka-Staudamm war 30 Meter hoch. Er staut den Dnipro kurz vor der Mündung ins Schwarze Meer zu einem riesigen See, der wegen seiner Größe selbst wie ein Meer wirkt. Die russischen Truppen sprengten nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj das Kachowka-Wasserkraftwerk von innen heraus. In der Nacht um 2.50 Uhr hätten „russische Terroristen“eine interne Sprengung des Wasserkraftwerks vorgenommen, erklärt der Präsident auf dem Kurznachrichtendienst Telegram.
Außenminister Dmytro Kuleba verurteilte den Anschlag auf den Staudamm und das Wasserkraftwerk im russisch besetzten Teil des Gebiets Cherson als „abscheuliches Kriegsverbrechen“. Tausende Zivilisten seien in Gefahr. Zudem seien mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Dienstag aus der ukrainischen Führung.
Yuliia Kravchenko denkt an Orte, die nur noch in ihrer Erinnerung existieren. Die Tränen fließen. Auch dieser Damm hält nicht mehr.
„Man riskiert lieber Tausende Leben als eine militärische Niederlage.“Yuliia Kravchenko, Flüchtlingshelferin „Die Menschen auf der besetzten Seite wollen raus, man lässt sie nicht.“Ella Lamakh, Frauenrechtlerin