„Es herrscht ein Kulturkampf in der Armee“
Militärexperte Gady besuchte kürzlich Bachmut und sprach mit ukrainischen Soldaten. Die Kampfmoral ist hoch, genauso aber der Unmut.
Einst war Bachmut das Zentrum der ukrainischen Salzindustrie, heute ist von der einstigen 73.000-Einwohner-Stadt nicht mehr viel übrig. An keinem anderen Kriegsschauplatz in der Ukraine wird so heftig und blutig gekämpft wie um Bachmut. Und das, obwohl Experten die militärische Bedeutung der Stadt gering einstufen. Der österreichische Militäranalyst Franz-Stefan Gady war vor Ort und hat mit ukrainischen Soldaten gesprochen.
SN: Herr Gady, wie kann man sich die Lage in Bachmut vorstellen?
Franz-Stefan Gady: Die Schlacht an sich ist sehr facettenreich. Es gibt auf der einen Seite einen Kampf im urbanen Raum, das heißt, hier findet ein Häuserkampf auf kürzester Distanz statt. Das Schwergewicht der Kämpfe findet aber außerhalb von Bachmut statt. Dort liegen sich russische und ukrainische Soldaten in Grabensystemen gegenüber.
SN: Diese Schützengräben erinnern an den Ersten Weltkrieg. Sehen Sie Parallelen zwischen den beiden Kämpfen?
Es ist falsch, die Schlacht mit dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen. Ja, außerhalb Bachmuts gibt es Gräbensysteme – und in der Mitte ist quasi Niemandsland, über das beide Seiten vorstoßen müssen. Das erinnert natürlich an den Ersten Weltkrieg. Aber Bachmut ist nicht mit dem Ersten Weltkrieg vergleichbar. Damals waren das Feuervolumen und die Anzahl der Soldaten deutlich höher.
Sowieso wäre ich vorsichtig mit historischen Analogien, da die militärische Technologie heutzutage eine ganz andere ist. So setzen beide Seiten kommerzielle Drohnen und Präzisionswaffen ein und versuchen, mit innovativen Taktiken eine Entscheidung herbeizuführen.
Sie haben in Bachmut mit ukrainischen Soldaten und Kommandeuren gesprochen. Wie steht es um die Moral der ukrainischen Armee?
SN:
Die Moral ist im Großen und Ganzen hoch. Aber es herrscht bei den Soldaten teilweise Unverständnis, warum diese Stadt gehalten werden muss. Warum sie in einer taktisch sehr ungünstigen Lage die Stadt verteidigen müssen. Denn es würde zum Beispiel günstigere Verteidigungsanlagen 1000 Meter westlich der Stadt geben.
In dieser Hinsicht habe ich schon ein Rumoren festgestellt. Und man ist teilweise nicht zufrieden mit der oberen militärischen Führung.
SN: Worin besteht die Unzufriedenheit mit der militärischen Führung?
Man könnte sagen, es herrscht ein Kulturkampf in der ukrainischen Armee. Denn es treffen hier zwei militärische Denkweisen aufeinander: die alte sowjetische und die neue westliche.
SN: Woran machen Sie diese zwei Denkweisen fest?
Das westliche Denken zeichnet sich dadurch aus, dass militärische Entscheidungen Kommandeuren oder Entscheidungsträgern auf niedrigeren Ebenen überlassen werden. Das
heißt: Auch die Kommandeure vor Ort haben einen Entscheidungsspielraum und können auf Veränderungen im Gefechtsfeld flexibel reagieren.
Auf der anderen Seite gibt es eine noch immer sehr rigide sowjetische militärische Denkweise mit starken Hierarchien. Dort wird von oben nach unten alles bis ins kleinste Detail befohlen. Das hemmt die Eigeninitiative zum Beispiel auf Kompanieebene, also Truppen mit bis zu 250 Soldaten. Wenn sich auf dem Schlachtfeld dann etwas ändert, wird nicht oder kaum reagiert. Weil die Kommandeure Angst haben, dass sie ohne Befehle von oben nicht handeln dürfen.
SN: Sogar Soldaten sind verunsichert, wieso gerade Bachmut gehalten wird. Warum hält die Ukraine trotzdem an der Stadt fest?
Da möchte ich nicht spekulieren. Ich glaube, es ist eine politische Entscheidung, die Stadt zu halten. In dieser Hinsicht sticht die politische Entscheidung die militärische. Es gilt das Primat der Politik im Krieg. Es werden politische Entscheidungen getroffen, die sich auf der taktisch-militärischen Ebene manchmal als unvorteilhaft erweisen.
Das hat es sehr oft in der Kriegsgeschichte gegeben. Und oft war es auch so, dass die politische Führung eine Entscheidung getroffen hat, die militärisch wenig Sinn ergeben
hat – aber letztendlich zum Sieg beigetragen hat.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, wenn Bachmut fällt, hätte Russland „freie Bahn in andere ukrainische Städte“. Ist die Stadt kriegsentscheidend?
SN:
dennoch
Nein, das würde ich nicht so sehen. Sollte Bachmut fallen, gibt es, wie gesagt, die nächsten Verteidigungsanlagen rund 1000 Meter westlich der Stadt und alle Ausfallstraßen könnten gut von den ukrainischen Streitkräften verteidigt werden.
SN: Selenskyj hat eine Gegenoffensive angekündigt. Wie könnte sich der Krieg weiterentwickeln?
Früher oder später wird die Ukraine eine größere Frühjahrsoffensive starten. Ob das nun eine Großoffensive sein wird oder mehrere kleine Offensiven und wo genau diese stattfinden werden, darüber kann man nur spekulieren.
Der Süden, die Gegend um Saporischschja, ist strategisch sehr bedeutsam, hier könnte der Hauptstoß liegen. Aber es kann auch sein, dass an anderen Frontabschnitten kleine Offensiven stattfinden.
SN: Schwächt der Abnützungskampf um Bachmut eine geplante ukrainische Großoffensive?
Bei unserer Feldforschung konnten wir feststellen, dass der Kampf um
Bachmut im Moment die ukrainische Streitkraft nicht in so einem großen Ausmaß verschlingt, dass das Potenzial einer Offensive der ukrainischen Streitkräfte geschwächt würde. Das viel größere Problem ist der Artillerieverbrauch.
SN: Welche Waffen braucht die Ukraine für Bachmut und eine mögliche Gegenoffensive?
Die Ukraine braucht jetzt vor allem Artilleriemunition, Geschosse vom Kaliber 155 Millimeter, und Flugabwehrsysteme, um Attacken gegen ihre kritische Infrastruktur abzuwehren. Und um in die Offensive gehen zu können, sind gepanzerte Fahrzeuge notwendig.
SN: Sehen Sie aus militärischer Sicht ein Ende des Kriegs in absehbarer Zeit?
Beide Seiten haben noch militärische Optionen – und sie wollen diese auch nutzen. Sowohl Russland als auch die Ukraine glauben noch an einen militärischen Sieg. Also allein in militärischer Hinsicht bin ich daher nicht optimistisch, dass dieser Konflikt in naher Zukunft vorbei sein wird.