Alles ist noch längst nicht genug
In einer grandiosen Fantasy-Komödie wird Michelle Yeoh von einer, die das Leben dauernd enttäuscht, zur Retterin allen Daseins.
Es ist einfach zu viel. Bis zum Nachmittag muss Evelyn, gespielt von „Tiger and Dragon“-Star Michelle Yeoh, folgende Liste abarbeiten: Sie soll für ihren strengen Vater kochen und ihm beibringen, dass seine Enkelin keinen Mann, sondern eine Partnerin hat. Sie soll für die Kundinnen und Kunden ihrer Münzwäscherei ein chinesisches Neujahrsfest ausrichten. Außerdem will ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) etwas Wichtiges mit ihr besprechen, und sie muss ihre Steuerunterlagen zum Finanzamt bringen, Beamtin Deirdre (Jamie Lee Curtis) ist schon gefährlich grantig.
Da kommt es ungelegen, dass plötzlich aus einem Paralleluniversum eine Alpha-Version von Waymond auftaucht und Evelyn erklärt, dass sie die letzte Rettung für das Multiversum sei. Dadurch, dass sie in ihrem Leben so komplett erfolglos ist, hat sie mehr ungenutztes Potenzial zu Heldenmut und Superkraft als sonst jemand auf der Welt. Also gut, dann also noch ein weiterer Punkt auf Evelyns Liste.
Dass die Wirklichkeit alternative Versionen haben kann, weiß das Kino schon lange: Einige der großen Filmhits der späten Neunziger und frühen Nullerjahre spielten damit, von „The Matrix“über „Und täglich grüßt das Murmeltier“bis zu Tom Tykwers „Lola rennt“. Minimale Entscheidungen hatten da gewaltige Auswirkungen, und die erzählte Wirklichkeit war immer nur eine Variante dessen, was möglich ist.
Diese Idee ist in jüngerer Zeit zurückgekehrt ins Kino, etwa bei „Free Guy“oder „Dr. Strange and the Multiverse of Madness“. Die ActionFantasy-Komödie „Everything Everywhere All at Once“von Daniel Kwan und Daniel Scheinert allerdings treibt die Sache auf die Spitze: Das Universen-Hüpfen ist Zentrum des Films, die Regeln sind nur ungefähr erahnbar, als Publikum hat man das eben hinzunehmen, lehnen Sie sich zurück, die Achterbahnfahrt geht los.
Kontext für Evelyns Kampf um ein intaktes Universum sind bröselnde Institutionen, bröselnde Wahrheiten, eine Haltlosigkeit und ein Abgrundgefühl, die der Gegenwart nicht fremd sind. Ihre mächtige Gegenspielerin Jobu Tobacky ist folgerichtig eine nihilistische Figur, deren Antagonismus weniger in Schurkenhaftigkeit besteht, sondern in ihrer Erkenntnis, dass alles egal ist, also auch jeder Schmerz und jeder Tod. Evelyns Aufgabe ist es, dieser Egalheit etwas entgegenzusetzen, mit Spezialfähigkeiten, die sie sich mithilfe ihres fremden Alpha-Ehemanns von ihren eigenen Parallelexistenzen ausleiht.
Der Reiz am Film ist nicht nur die totale audiovisuelle Überwältigung, sondern auch die seltsam beruhigende Erkenntnis, dass es tatsächlich mehr als eine Wirklichkeit gibt.
Das stimmt schließlich auch ohne quantenmechanisches Unterfutter: Evelyn lebt zugleich ein Dasein als amerikanische Unternehmerin, als Tochter ihres konservativen chinesischen Vaters, als Mutter einer lesbischen jungen Frau, sie versucht den unverständlichen Steuerforderungen der US-Administration gerecht zu werden, sie variiert alle paar Sätze zwischen Mandarin und Englisch, verwechselt Pronomen und findet das ziemlich egal, lebt ein halb chinesisches, halb amerikanisches Dasein, und dass sie dann das mit der Existenz als liebende Ehefrau nicht mehr hinkriegt, ist eigentlich gar kein Wunder.
Was daherkommt wie ein wilder Actionritt mit makellosen Martial-Arts-Stunts, pubertärem Humor und zu Lachtränen provozierenden Blödsinnigkeiten – unumstrittener Höhepunkt die romantische Würstelfinger-Parallelrealität –, ist also zugleich eine natürlich überzeichnete, deswegen aber nicht weniger wahrhaftige Darstellung einer intersektionalen Existenz, und nicht zuletzt eine Feier der Wandelbarkeit von Michelle Yeoh, Hongkong-Superstar und Hollywood-Ikone. Mehr als alles kann niemand wollen.
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