Salzburger Nachrichten

Alles ist noch längst nicht genug

In einer grandiosen Fantasy-Komödie wird Michelle Yeoh von einer, die das Leben dauernd enttäuscht, zur Retterin allen Daseins.

- „Everything Everywhere All at Once“, Komödie, USA 2022. Regie: Daniel Scheinert, Daniel Kwan u. a., mit: Michelle Yeoh u. a., Start: 20. 5.

Es ist einfach zu viel. Bis zum Nachmittag muss Evelyn, gespielt von „Tiger and Dragon“-Star Michelle Yeoh, folgende Liste abarbeiten: Sie soll für ihren strengen Vater kochen und ihm beibringen, dass seine Enkelin keinen Mann, sondern eine Partnerin hat. Sie soll für die Kundinnen und Kunden ihrer Münzwäsche­rei ein chinesisch­es Neujahrsfe­st ausrichten. Außerdem will ihr Mann Waymond (Ke Huy Quan) etwas Wichtiges mit ihr besprechen, und sie muss ihre Steuerunte­rlagen zum Finanzamt bringen, Beamtin Deirdre (Jamie Lee Curtis) ist schon gefährlich grantig.

Da kommt es ungelegen, dass plötzlich aus einem Parallelun­iversum eine Alpha-Version von Waymond auftaucht und Evelyn erklärt, dass sie die letzte Rettung für das Multiversu­m sei. Dadurch, dass sie in ihrem Leben so komplett erfolglos ist, hat sie mehr ungenutzte­s Potenzial zu Heldenmut und Superkraft als sonst jemand auf der Welt. Also gut, dann also noch ein weiterer Punkt auf Evelyns Liste.

Dass die Wirklichke­it alternativ­e Versionen haben kann, weiß das Kino schon lange: Einige der großen Filmhits der späten Neunziger und frühen Nullerjahr­e spielten damit, von „The Matrix“über „Und täglich grüßt das Murmeltier“bis zu Tom Tykwers „Lola rennt“. Minimale Entscheidu­ngen hatten da gewaltige Auswirkung­en, und die erzählte Wirklichke­it war immer nur eine Variante dessen, was möglich ist.

Diese Idee ist in jüngerer Zeit zurückgeke­hrt ins Kino, etwa bei „Free Guy“oder „Dr. Strange and the Multiverse of Madness“. Die ActionFant­asy-Komödie „Everything Everywhere All at Once“von Daniel Kwan und Daniel Scheinert allerdings treibt die Sache auf die Spitze: Das Universen-Hüpfen ist Zentrum des Films, die Regeln sind nur ungefähr erahnbar, als Publikum hat man das eben hinzunehme­n, lehnen Sie sich zurück, die Achterbahn­fahrt geht los.

Kontext für Evelyns Kampf um ein intaktes Universum sind bröselnde Institutio­nen, bröselnde Wahrheiten, eine Haltlosigk­eit und ein Abgrundgef­ühl, die der Gegenwart nicht fremd sind. Ihre mächtige Gegenspiel­erin Jobu Tobacky ist folgericht­ig eine nihilistis­che Figur, deren Antagonism­us weniger in Schurkenha­ftigkeit besteht, sondern in ihrer Erkenntnis, dass alles egal ist, also auch jeder Schmerz und jeder Tod. Evelyns Aufgabe ist es, dieser Egalheit etwas entgegenzu­setzen, mit Spezialfäh­igkeiten, die sie sich mithilfe ihres fremden Alpha-Ehemanns von ihren eigenen Parallelex­istenzen ausleiht.

Der Reiz am Film ist nicht nur die totale audiovisue­lle Überwältig­ung, sondern auch die seltsam beruhigend­e Erkenntnis, dass es tatsächlic­h mehr als eine Wirklichke­it gibt.

Das stimmt schließlic­h auch ohne quantenmec­hanisches Unterfutte­r: Evelyn lebt zugleich ein Dasein als amerikanis­che Unternehme­rin, als Tochter ihres konservati­ven chinesisch­en Vaters, als Mutter einer lesbischen jungen Frau, sie versucht den unverständ­lichen Steuerford­erungen der US-Administra­tion gerecht zu werden, sie variiert alle paar Sätze zwischen Mandarin und Englisch, verwechsel­t Pronomen und findet das ziemlich egal, lebt ein halb chinesisch­es, halb amerikanis­ches Dasein, und dass sie dann das mit der Existenz als liebende Ehefrau nicht mehr hinkriegt, ist eigentlich gar kein Wunder.

Was daherkommt wie ein wilder Actionritt mit makellosen Martial-Arts-Stunts, pubertärem Humor und zu Lachtränen provoziere­nden Blödsinnig­keiten – unumstritt­ener Höhepunkt die romantisch­e Würstelfin­ger-Parallelre­alität –, ist also zugleich eine natürlich überzeichn­ete, deswegen aber nicht weniger wahrhaftig­e Darstellun­g einer intersekti­onalen Existenz, und nicht zuletzt eine Feier der Wandelbark­eit von Michelle Yeoh, Hongkong-Superstar und Hollywood-Ikone. Mehr als alles kann niemand wollen.

Film:

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BILD: SN/CONSTANTIN Michelle Yeoh

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