Zeit quillt aus einem großen Kasten
In einem aparten Museum ticken Hunderte Uhren einem Hunderter entgegen.
WIEN. Die Zeit kann einen riesigen Kasten ausfüllen. Was heute oft mit dem Tippen eines Fingers auf dem Smartphone zu eruieren ist, hat einst das Studium mehrerer Zeiger erfordert, die gemächlich über die mit Zahlen beschriebenen Scheiben oder Ringe tuckern, um die Zeit hier und anderswo zu bemessen und abzubilden. Wer die aus der 2,80 Meter hohen Bodenstanduhr hervorquellenden Zeiten beobachtet, verfällt nicht dem Irrtum, zu glauben, bloß zwei Zeiger am Handgelenk oder Ziffern des Digitalweckers könnten die Zeit angemessen rapportieren.
An diesem mit zwei Flügeltüren versehenen Kasten hat der südsteirische Landpfarrer Michael Krofitsch vor gut 200 Jahren die vielerorts vergehende und kommende Zeit samt der Relativität des Zeitgefühls vielfältig dargestellt: an Stunden und Minuten, an Planetenständen oder an Kalendern verschiedener Kulturen oder Epochen. Der Dechant von Leutschach mit einem Faible für Mathematik und Astronomie hat um 1810 in diesem mit „astronomisch-chronologischem Mechanismus“ausgestatteten Zeitmesser sogar die eigentlich 1805 eingestellte Jahreszählung des französischen Revolutionskalenders am Leben erhalten. Seine Bodenstanduhr ist eines der größten Exponate im Wiener Uhrenmuseum.
Dort steht ein sonderbares Jubiläum an. Jetzt, im Frühjahr, wäre der 100. Geburtstag dieses reizvollen Museums zu feiern. Doch auch wenn der Lockdown der Ostregion nicht bis zum eigentlichen Museumshunderter am 30. Mai dauern sollte, nützte das wenig. Denn im einstigen Palais Obizzi aus dem 17. Jahrhundert am Schulhof – zwischen Tuchlauben und Am Hof – sind die 19 Räume so eng, dass zwar viele Taschenuhren, doch kaum Besucher mit Zwei-Meter-Abstand Platz haben. In einigen Zimmern könnte sich laut dieser Coronaregel entweder ein Besucher oder eine Aufsichtsperson aufhalten. Folglich ist zu befürchten, dass die Leiterin Tabea Rude recht behalten wird: Das Uhrenmuseum „öffnet als allerletztes“, derzeit richte sie ihre Hoffnung auf den Herbst.
Trotzdem müssen das Turmuhrwerk des Stephansdoms von 1699, die Laterndluhren des Biedermeier oder die Zeitschaltuhr für eine Gaslampe der Wiener Innenstadt aus 1920 nicht total allein gelassen zum Jubiläum hinticken. Die Schließzeit werde für Restaurierungen – etwa einer kostbaren Orgeluhr – genutzt, zudem werde die Sammlung digital erfasst, berichtet Tabea Rude. Beides werde über Newsletter und andere digitale Schienen des Wien
Museum, zu dem das Uhrenmuseum gehört, in die Welt getragen.
Hätte Tabea Rude für den 100. Geburtstag des von ihr seit 2017 kuratierten Museums einen Wunsch frei, wäre der bemerkenswert: eine weniger als 100 Jahre alte Uhr – „auf jeden Fall etwas Modernes“. Denn in der Sammlung fehle es an Uhren des 20. Jahrhunderts. Dabei gäbe es so viele interessante Uhren, die in den vorigen 100 Jahren in Österreich oder Wien patentiert worden seien – doch kaum eine im Uhrenmuseum. Eine Quarzpendeluhr oder die eine oder andere „elektrische und elektronische Erfindung“wären wichtig. Und freilich: „Eine Atomuhr wäre super!“Denn „da wird die Zeit gemacht“. Und daran wäre zu zeigen, wie Zeitmessung von der schnörkeligen Kommodenstanduhr in unsere Handys komme. Vorerst muss sich Tabea Rude mit dem Gedanken an Braunschweig – dort steht die nächste Atomuhr – begnügen sowie mit dem Vorhaben: „Die Digitalisierung müssen wir noch nachholen“– sie meint nicht das digitale Abbilden der Exponate, sondern Digitaluhren.
Die Zeit des Sammelns ist im Uhrenmuseum also vor 100 Jahren fast stehen geblieben. Denn auch heute frönen viele Uhrenliebhaber dem Mechanischen. Oft seien es Physiker oder Ingenieure, die als Hobby oder in der Pension das, was sie theoretisch und abstrakt verstünden, mit Händen begreifen wollten, schildert Tabea Rude. Zudem beruht die Raffinesse dieses Museums auf Spleens mehrerer Privatpersonen – vor allem eines Lehrers aus Haslach an der Mühl: Von diesem Rudolf Kaftan, der im Palais Obizzi wohnte, erwarb die Gemeinde Wien 1917 rund 8000 Uhren – darunter viele damalige Innovationen – für ein Museum. Bis zu dessen Eröffnung im selben Haus kamen weitere Privatsammlungen hinzu, wie jene aus dem Nachlass der Dichterin Marie Ebner-Eschenbach.
„Das ist die größte Sammlung österreichischer Uhren.“