Die Kälte kriecht in diese Geschichte
Ein Fremdling „aus wärmeren Gebieten“kommt in eine Stadt und entpuppt sich als ein Wächter der Erinnerung.
Was müssen wir uns unter einem Bioskop vorstellen, das im Titel des jüngsten Buchs von Clemens Meyer aufscheint? Im ehemaligen Jugoslawien nannte man so das Kino. Die soeben im Verlag Faber & Faber erschienene Erzählung spielt im Jahr 1942 in Novi Sad in der Vojvodina, heute in Serbien gelegen. Damals war die Stadt vom Königreich Ungarn besetzt, das die Deutschen bei ihrer Vernichtungspolitik unterstützte. Im Jänner 1942 ertränkten die Ungarn Hunderte Zivilisten, indem sie sie unters Eis der zugefrorenen Donau warfen. Diese verheerende Episode gibt den Hintergrund für Clemens Meyers Geschichte ab.
Zwei Menschen treffen aufeinander, eine junge Frau und ein undurchsichtig wirkender Besucher der Stadt. Sie steht im Dienst einer Familie, in deren Auftrag sie auf dem Schwarzmarkt eine bestimmte Zigarettensorte erwerben soll. Er kommt „aus wärmeren Gebieten“und weiß mehr als die anderen. Wenn er über die vereiste Donau blickt und die Pfiffe der Lokomotiven hört, fühlt er sich an „lang gezogene Schreie“erinnert, weil ihm die Gräuel des Kriegs bekannt sind.
Er kommt als Fremdling, gehört nicht zu den Besatzern. Ein halbes Jahr zuvor, im Sommer 1941, ist er Zeuge gewesen, als die Ungarn in einer „Parade der Sieger“die Stadt einnahmen. Dann hat er Novi Sad verlassen, ist jetzt zurück in einer Mission. Wie eine höhere Instanz des Rechts, das längst außer Kraft gesetzt ist, bewahrt er die Untaten und die Toten in einer ungeschriebenen Chronik der Verbrechen in
Clemens Meyer: seinem Inneren auf. Unauffälligkeit ist sein Prinzip, das Registrieren ist seine Passion. Er ist der einsame Wolf – damit nicht vergessen wird, womit in ruhigen Zeiten niemand mehr etwas zu tun haben will.
Clemens Meyer hat in seinem Debüt „Als wir träumten“(2006) von jungen Menschen in Leipzig erzählt, die einer rauen Gegenkultur angehörten. In diesem Milieu provokanter Kleinkrimineller, wo Drogen
und Alkohol eine Rolle spielen, kommen antibürgerliche Rebellen ohne theoretischen Hintergrund in Fahrt. Clemens Meyer war Teil dieser Clique, seine Erfahrungen hat er zu Literatur gemacht, die als Speicher dieses Lebensgefühls dient.
In der neuen, in historischen Details genauen Erzählung bleibt er bei dieser Methode, einen Einzelnen als Chronisten des Verdrängten einzusetzen. „Nacht im Bioskop“hält sich an die Wahrnehmungen und Erinnerungen des Beobachters, der etwas zu verbergen hat.
Die junge Frau möchte ihre Haut retten. Sie strandet am Bahnhof, wo eine Razzia stattfindet, Verhaftungen werden vorgenommen, Menschen werden blutig geschlagen. Ein Massaker steht bevor. Mittendrin ist die namenlose Frau, auf die der Unbekannte aufmerksam wird und die er mit ins Kino nimmt. Dort ist der Raum für Illusionen, dort ist Platz für das Wunderbare, dort darf die grauenhafte Gegenwart für kurze Zeit ausgeblendet werden.
Der Partisan ist Wächter der Erinnerung und er rettet Leben. Das Bioskop wird zum Aufenthaltsort der Verlorenen, während sich draußen das Töten ereignet. Clemens Meyer erzählt nichts restlos zu Ende, Fragen bleiben, Geradlinigkeit ist nicht seine Sache. Menschen betreten Nebenwege, lassen sich von Erinnerungen leiten, haben Flausen und Pläne im Kopf. Diese Vielfalt, die sich im Inneren abspielt, schneidet Clemens Meyer ineinander. So kommen unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche von Denken und Fühlen einander ins Gehege. Das ergibt eine Erzählung, an der man lang zu beißen hat.