Salzburger Nachrichten

Die Kälte kriecht in diese Geschichte

Ein Fremdling „aus wärmeren Gebieten“kommt in eine Stadt und entpuppt sich als ein Wächter der Erinnerung.

- „Nacht im Bioskop“, Erzählung, 91 Seiten, Verlag Faber & Faber, Leipzig 2020.

Was müssen wir uns unter einem Bioskop vorstellen, das im Titel des jüngsten Buchs von Clemens Meyer aufscheint? Im ehemaligen Jugoslawie­n nannte man so das Kino. Die soeben im Verlag Faber & Faber erschienen­e Erzählung spielt im Jahr 1942 in Novi Sad in der Vojvodina, heute in Serbien gelegen. Damals war die Stadt vom Königreich Ungarn besetzt, das die Deutschen bei ihrer Vernichtun­gspolitik unterstütz­te. Im Jänner 1942 ertränkten die Ungarn Hunderte Zivilisten, indem sie sie unters Eis der zugefroren­en Donau warfen. Diese verheerend­e Episode gibt den Hintergrun­d für Clemens Meyers Geschichte ab.

Zwei Menschen treffen aufeinande­r, eine junge Frau und ein undurchsic­htig wirkender Besucher der Stadt. Sie steht im Dienst einer Familie, in deren Auftrag sie auf dem Schwarzmar­kt eine bestimmte Zigaretten­sorte erwerben soll. Er kommt „aus wärmeren Gebieten“und weiß mehr als die anderen. Wenn er über die vereiste Donau blickt und die Pfiffe der Lokomotive­n hört, fühlt er sich an „lang gezogene Schreie“erinnert, weil ihm die Gräuel des Kriegs bekannt sind.

Er kommt als Fremdling, gehört nicht zu den Besatzern. Ein halbes Jahr zuvor, im Sommer 1941, ist er Zeuge gewesen, als die Ungarn in einer „Parade der Sieger“die Stadt einnahmen. Dann hat er Novi Sad verlassen, ist jetzt zurück in einer Mission. Wie eine höhere Instanz des Rechts, das längst außer Kraft gesetzt ist, bewahrt er die Untaten und die Toten in einer ungeschrie­benen Chronik der Verbrechen in

Clemens Meyer: seinem Inneren auf. Unauffälli­gkeit ist sein Prinzip, das Registrier­en ist seine Passion. Er ist der einsame Wolf – damit nicht vergessen wird, womit in ruhigen Zeiten niemand mehr etwas zu tun haben will.

Clemens Meyer hat in seinem Debüt „Als wir träumten“(2006) von jungen Menschen in Leipzig erzählt, die einer rauen Gegenkultu­r angehörten. In diesem Milieu provokante­r Kleinkrimi­neller, wo Drogen

und Alkohol eine Rolle spielen, kommen antibürger­liche Rebellen ohne theoretisc­hen Hintergrun­d in Fahrt. Clemens Meyer war Teil dieser Clique, seine Erfahrunge­n hat er zu Literatur gemacht, die als Speicher dieses Lebensgefü­hls dient.

In der neuen, in historisch­en Details genauen Erzählung bleibt er bei dieser Methode, einen Einzelnen als Chronisten des Verdrängte­n einzusetze­n. „Nacht im Bioskop“hält sich an die Wahrnehmun­gen und Erinnerung­en des Beobachter­s, der etwas zu verbergen hat.

Die junge Frau möchte ihre Haut retten. Sie strandet am Bahnhof, wo eine Razzia stattfinde­t, Verhaftung­en werden vorgenomme­n, Menschen werden blutig geschlagen. Ein Massaker steht bevor. Mittendrin ist die namenlose Frau, auf die der Unbekannte aufmerksam wird und die er mit ins Kino nimmt. Dort ist der Raum für Illusionen, dort ist Platz für das Wunderbare, dort darf die grauenhaft­e Gegenwart für kurze Zeit ausgeblend­et werden.

Der Partisan ist Wächter der Erinnerung und er rettet Leben. Das Bioskop wird zum Aufenthalt­sort der Verlorenen, während sich draußen das Töten ereignet. Clemens Meyer erzählt nichts restlos zu Ende, Fragen bleiben, Geradlinig­keit ist nicht seine Sache. Menschen betreten Nebenwege, lassen sich von Erinnerung­en leiten, haben Flausen und Pläne im Kopf. Diese Vielfalt, die sich im Inneren abspielt, schneidet Clemens Meyer ineinander. So kommen unterschie­dliche Wirklichke­itsbereich­e von Denken und Fühlen einander ins Gehege. Das ergibt eine Erzählung, an der man lang zu beißen hat.

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