Nachrichten aus der Parallelwelt
Mit welchen Spannungen zwischen zwei Welten wächst ein Kind von Zuwanderern auf? In Anna Prizkaus starkem Debüt ist davon zu lesen.
„Fast ein neues Leben“: Dieser Titel ist Programm. Als Mädchen gelangt die Erzählerin, die in allen zwölf Geschichten dieselbe ist, nach Deutschland. Sie kommt dort nie richtig an, öffnet sich den Anderen nicht, verbirgt nach Möglichkeit ihre Herkunft. Nicht einmal in den Erzählungen wird das ferne Land direkt angesprochen, es wird sich um Russland handeln, von wo Anna Prizkau selbst herkommt. Das macht die Atmosphäre des Buches aus: Vieles bleibt unausgesprochen, um sich ja keine Blöße zu geben und sich damit als Fremde zu verraten.
Diese Texte belassen ihr Ende gern in der Schwebe, machen also keinen Punkt. Stets sehen wir ein Mädchen oder eine junge Frau beim Versteckspiel. Sie schämt sich für das Land ihrer Herkunft, das in keinem guten Ruf steht, für die schäbige Wohnung, in die sie niemanden mitnimmt, für ihre Eltern, die des Deutschen nicht so mächtig sind wie sie selbst. Als junge Frau hat sie sich das Deutsch so gut angeeignet, dass sie ohne Weiteres als Deutsche durchgeht.
Sturheit ist der jungen Frau nicht abzusprechen. Konsequent unternimmt sie Absetzbewegungen von ihrer Vergangenheit. Sie streicht ihre Geschichte aus der Biografie, um sich Anfeindungen zu ersparen. Die erfährt sie tatsächlich, als sie einmal in der Sprache ihrer Kindheit telefonierend von drei Männern zusammengeschlagen wird. Lieber bricht sie mit ihrem Freund, mit dem sie zusammenlebt, als ihm davon zu erzählen. Die Vergangenheit mit all den Folgen für die Gegenwart bleibt Geheimbesitz.
Es gibt Gründe, die über den vermeintlichen Makel ihrer Herkunft hinausweisen, die das Leben für diese Erzählerin so schwer machen. Dass nicht viel geredet wird über das, was einen bedrängt, erfährt sie
Die Vergangenheit bleibt Geheimbesitz
in der eigenen Familie. Das Mädchen bekommt täglich mit, wie sich ihre Mutter im Bad einsperrt und heult. Wie ihr Vater verbirgt sie das Wissen um das psychische Drama hinter Schweigen. Worüber nicht gesprochen wird, existiert nicht, das ist die Lebenslüge der Ignoranten, die über kurz oder lang ihr blaues Wunder erfahren.
Später kommen Klinikaufenthalte der Mutter dazu, die dem jungen Leben der Tochter die Leichtigkeit der Jugend rauben. Schon in der ersten Geschichte, in der die erwachsene Tochter mit ihrem Vater Urlaub – vermutlich in der Karibik – macht, werden wir damit konfrontiert, dass die Mutter einmal „zum Frühstück zwei Packungen Schlaftabletten
schluckte“und seither regelmäßig Klinikaufenthalte anstanden.
In der letzten Erzählung werden die Details dazu geliefert. Als das Kind in der Schule war, unternahm die Mutter den Selbstmordversuch. Fortan ist das Mädchen von Schuldgefühlen belastet, weil es nicht rechtzeitig nach Hause kam, obwohl eine Stunde ausgefallen war.
Das ist ein besonderes Buch. Es wartet mit Nachrichten aus einer Parallelwelt der Zuwanderer auf, von der außerhalb wenig bekannt ist. Die Erzählungen kommen aus dem Inneren, gewiss sind eigene Erfahrungen eingeflossen, das lässt sie unter dem Zeichen der Dringlichkeit stehen.
Es gehört zur Kunst des Erzählens, auf knappem Raum eine Atmosphäre erstehen zu lassen, in die man als Fremdling eintaucht, Geschwätzigkeit wäre der Tod dieser kurzen Form. Anna Prizkau beherrscht in ihrem Debüt das Schreiben im Sparmodus mit starker Ausdruckskraft. Jede Geschichte steht für sich, in Summe ergeben sie das Porträt eines Emigrantenkindes, das zwei Welten kennt. Es wundert sich über die Kühle, mit der Menschen in Deutschland einander begegnen, und es bewundert die Deutschen für ihre geordneten Lebensverhältnisse. Dem Buch ist die Spannung eingeschrieben, unter der ein Mensch sich neu orientieren muss. Das wird uns sachlich vermittelt, auf die Mitleidstour setzt Anna Prizkau nie.