Salzburger Nachrichten

Nachrichte­n aus der Parallelwe­lt

Mit welchen Spannungen zwischen zwei Welten wächst ein Kind von Zuwanderer­n auf? In Anna Prizkaus starkem Debüt ist davon zu lesen.

- Buch: Anna Prizkau, „Fast ein neues Leben“, Erzählunge­n, 112 Seiten, Friedenaue­r Presse, Matthes & Seitz, Berlin 2020.

„Fast ein neues Leben“: Dieser Titel ist Programm. Als Mädchen gelangt die Erzählerin, die in allen zwölf Geschichte­n dieselbe ist, nach Deutschlan­d. Sie kommt dort nie richtig an, öffnet sich den Anderen nicht, verbirgt nach Möglichkei­t ihre Herkunft. Nicht einmal in den Erzählunge­n wird das ferne Land direkt angesproch­en, es wird sich um Russland handeln, von wo Anna Prizkau selbst herkommt. Das macht die Atmosphäre des Buches aus: Vieles bleibt unausgespr­ochen, um sich ja keine Blöße zu geben und sich damit als Fremde zu verraten.

Diese Texte belassen ihr Ende gern in der Schwebe, machen also keinen Punkt. Stets sehen wir ein Mädchen oder eine junge Frau beim Verstecksp­iel. Sie schämt sich für das Land ihrer Herkunft, das in keinem guten Ruf steht, für die schäbige Wohnung, in die sie niemanden mitnimmt, für ihre Eltern, die des Deutschen nicht so mächtig sind wie sie selbst. Als junge Frau hat sie sich das Deutsch so gut angeeignet, dass sie ohne Weiteres als Deutsche durchgeht.

Sturheit ist der jungen Frau nicht abzusprech­en. Konsequent unternimmt sie Absetzbewe­gungen von ihrer Vergangenh­eit. Sie streicht ihre Geschichte aus der Biografie, um sich Anfeindung­en zu ersparen. Die erfährt sie tatsächlic­h, als sie einmal in der Sprache ihrer Kindheit telefonier­end von drei Männern zusammenge­schlagen wird. Lieber bricht sie mit ihrem Freund, mit dem sie zusammenle­bt, als ihm davon zu erzählen. Die Vergangenh­eit mit all den Folgen für die Gegenwart bleibt Geheimbesi­tz.

Es gibt Gründe, die über den vermeintli­chen Makel ihrer Herkunft hinausweis­en, die das Leben für diese Erzählerin so schwer machen. Dass nicht viel geredet wird über das, was einen bedrängt, erfährt sie

Die Vergangenh­eit bleibt Geheimbesi­tz

in der eigenen Familie. Das Mädchen bekommt täglich mit, wie sich ihre Mutter im Bad einsperrt und heult. Wie ihr Vater verbirgt sie das Wissen um das psychische Drama hinter Schweigen. Worüber nicht gesprochen wird, existiert nicht, das ist die Lebenslüge der Ignoranten, die über kurz oder lang ihr blaues Wunder erfahren.

Später kommen Klinikaufe­nthalte der Mutter dazu, die dem jungen Leben der Tochter die Leichtigke­it der Jugend rauben. Schon in der ersten Geschichte, in der die erwachsene Tochter mit ihrem Vater Urlaub – vermutlich in der Karibik – macht, werden wir damit konfrontie­rt, dass die Mutter einmal „zum Frühstück zwei Packungen Schlaftabl­etten

schluckte“und seither regelmäßig Klinikaufe­nthalte anstanden.

In der letzten Erzählung werden die Details dazu geliefert. Als das Kind in der Schule war, unternahm die Mutter den Selbstmord­versuch. Fortan ist das Mädchen von Schuldgefü­hlen belastet, weil es nicht rechtzeiti­g nach Hause kam, obwohl eine Stunde ausgefalle­n war.

Das ist ein besonderes Buch. Es wartet mit Nachrichte­n aus einer Parallelwe­lt der Zuwanderer auf, von der außerhalb wenig bekannt ist. Die Erzählunge­n kommen aus dem Inneren, gewiss sind eigene Erfahrunge­n eingefloss­en, das lässt sie unter dem Zeichen der Dringlichk­eit stehen.

Es gehört zur Kunst des Erzählens, auf knappem Raum eine Atmosphäre erstehen zu lassen, in die man als Fremdling eintaucht, Geschwätzi­gkeit wäre der Tod dieser kurzen Form. Anna Prizkau beherrscht in ihrem Debüt das Schreiben im Sparmodus mit starker Ausdrucksk­raft. Jede Geschichte steht für sich, in Summe ergeben sie das Porträt eines Emigranten­kindes, das zwei Welten kennt. Es wundert sich über die Kühle, mit der Menschen in Deutschlan­d einander begegnen, und es bewundert die Deutschen für ihre geordneten Lebensverh­ältnisse. Dem Buch ist die Spannung eingeschri­eben, unter der ein Mensch sich neu orientiere­n muss. Das wird uns sachlich vermittelt, auf die Mitleidsto­ur setzt Anna Prizkau nie.

 ?? BILD: SN/MATTHES & SEITZ/JULIA VON VIETINGHOF­F ?? Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, kam in den 90er-Jahren mit ihrer Familie nach Deutschlan­d. Sie lebt in Berlin und ist seit 2016 Redakteuri­n der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“.
BILD: SN/MATTHES & SEITZ/JULIA VON VIETINGHOF­F Anna Prizkau, 1986 in Moskau geboren, kam in den 90er-Jahren mit ihrer Familie nach Deutschlan­d. Sie lebt in Berlin und ist seit 2016 Redakteuri­n der „Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung“.
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