Wladimir Putin reizt sein Blatt aus
Endende Geduld und Indizienlage ließen den EU-Spitzen keine Wahl. Warum die Sanktionen gegen Russland für Angela Merkel auch ein innenpolitischer Erfolg sind.
BRÜSSEL. Bei der Verhängung von Sanktionen kommt die EU üblicherweise im Schneckentempo voran. Nicht so in diesem Fall. Die Außenminister folgten bei ihrem Treffen in Luxemburg einer deutschfranzösischen Initiative ohne große Debatte und ohne Einwand und einigten sich darauf, Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Der deutsche Außenminister Heiko Maas und sein französischer Amtskollege Jean-Yves Drian hatten seit Tagen kritisiert, dass der Kreml nichts zur Aufklärung des Mordversuchs an Putin-Kritiker Alexej Nawalny beiträgt. Der 44-jährige Oppositionelle war auf einem russischen Inlandsflug zusammengebrochen und auf Drängen Berlins nach Deutschland zur Behandlung gebracht worden.
Der von der internationalen Organisation zum Verbot chemischer Waffen bestätigte Befund: Vergiftung mit Nowitschok, einem russischen chemischen Kampfstoff.
Da das hochgefährliche Kontaktgift schließlich „nicht in der nächsten Drogerie in Russland besorgt werden kann“(Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg), sahen auch Amtskollegen Maas und Drian keine „andere plausible Erklärung für die Vergiftung … als eine russische Beteiligung und Verantwortung“. Dass der Sanktionsbeschluss als deutliches politisches Signal so problemlos über die Bühne gehen konnte, hat mit der Indizienlage
zu tun, aber auch mit einer enden wollenden Geduld gegenüber Russlands Präsident Wladimir Putin. Vor allem der Ton von Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel ist deutlich kühler geworden. Ihre bislang unerschütterlichen Bemühungen, mit dem Kremlherrscher wenigstens ein stabiles Arbeitsverhältnis aufzubauen, sind gescheitert. Im Gegenteil: Im Mai griffen russische Hacker den Bundestag an. Im vergangenen Sommer kam es zu einem – laut Ermittlungen – staatlichen russischen Auftragsmord an einem Oppositionellen auf deutschem Staatsgebiet mitten in Berlin und nun auch noch der Mordversuch mit geächteten Chemiewaffen an Nawalny, den Merkel persönlich im Spital besuchte.
Aber Merkel wäre nicht Merkel, würde sie sich nicht politischen Handlungsraum offen halten. Der rasche Brüsseler Sanktionsbeschluss im Fall Nawalny hat sie vom Druck auch aus der eigenen Partei entlastet, aus der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 auszusteigen – ein Schritt, der Russlands schwache und anfällige Wirtschaft und damit auch Wladimir Putin über alle Symbolik hinaus tatsächlich schwer treffen würde. Diese Option bleibt also noch in der Hinterhand. Auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reihte sein Werben nach einem „strategischen Dialog“mit Russland angesichts des Ärgers über den Giftanschlag und die kaltschnäuzige Verweigerung jeglicher Aufklärung zurück und stimmte für Sanktionen.
Möglichst zügig soll nun eine Arbeitsgruppe des Rats in Brüssel die Einzelheiten vorbereiten. Strafmaßnahmen sollen sich gegen verantwortliche Einzelpersonen richten, wahrscheinlich die Geheimdienstchefs, und eine Institution, die in die Produktion von Nowitschok eingebunden ist.
Das künftige Verhältnis zu Russland wird beim EU-Gipfel Ende der Woche ein Thema.