Auf der Bühne erblasst Zweigs Erzählkunst
Aus der Erzählung „Brief einer Unbekannten“wird im Theater in der Josefstadt ein Bühnenstück. Das geht nicht ohne Verluste.
WIEN. Zweifellos sind Stefan Zweigs Novellen voller Dramatik. Obsession und Passion treiben den Protagonisten in der „Schachnovelle“an und auch die namenlose Frau in „Brief einer Unbekannten“ist von einer krankhaften Leidenschaft beherrscht. Für das Theater in der Josefstadt hat der britische Autor und Regisseur Christopher Hampton den Prosatext dramatisiert und inszeniert. Die Uraufführung – in der deutschen Übersetzung von Daniel Kehlmann – hätte im März stattfinden sollen, coronabedingt wurde sie auf den 1. Oktober verschoben.
Durch die Bearbeitung und Übersetzungen werden Sprache und Erzählkunst Zweigs geschwächt. In der Novelle schreibt die Protagonistin in Briefform von ihrer kindlichen Zuneigung zum Adressaten, die zur Obsession wird. Angesichts des Todes ihres Sohnes breitet sie dem Geliebten das Ausmaß dieser einseitigen Liebe aus.
In Zweigs Novelle variiert die Erzählung zwischen rätselhaften Lücken und romantisch-idealisierenden Bildern, die am Theater verloren gehen. Da wird etwa aus einem verspielten „Er hat gut gelernt, er plauderte Französisch wie eine kleine Elster“ein hölzernes „Er sprach perfekt Französisch“. Die geheimnisvolle Unbekannte – zentraler Reiz der Novelle – heißt im Stück Marianne, sie erzählt dem Angebeteten ihre Lebensgeschichte. Er wird bei Zweig als „bekannter Romanschriftsteller R.“vorgestellt. Hampton macht aus R. den Romancier Stefan, der unzweifelhaft nach seinem Verfasser gestaltet ist, und lässt ihn nebenbei über seine Dostojewski-Bücher oder seine Ambivalenz zum Judentum sprechen.
Michael Dangl stellt den Stefan als gesetzten, routinierten Liebhaber dar, der seine junge Geliebte nach den Regeln der Verführungskunst umschmeichelt, um sie gleich wieder zu vergessen. Eigentlich ist er ein kalter Biedermann, ein Narzisst, dem die Liebe Mariannes nichts bedeutet. Vielleicht handelt es sich auch um eine Fantasie Mariannes, die von einem Mann träumt, der ihr Vater sein könnte. Das Träumerische steht im Zentrum von Hamptons Inszenierung, der vor allem über Musik und Licht für eine ephemere Stimmung sorgt. Hinter dem Schriftsteller-Salon wird in Erinnerungssequenzen ein Stiegenhaus sichtbar. Transparente Vorhänge legen sich wie Schleier über die Vergangenheit und zeigen Momente, die womöglich nur in der Vorstellung des Mädchens passierten. Martina Ebm spielt keine abgehobene Träumerin, sondern eine bodenständige junge Frau, die weiß, wie Verführung funktioniert. Nicht zuletzt verdient sie sich auf diese Weise ihr Geld. Als sie noch einmal mit Stefan schlafen will, zögert er. „Ich werde dir helfen“, verspricht sie ihm. Wobei?
Bald 100 Jahre sind seit der Entstehung des Textes vergangen. Die hingebungsvolle „Femme enfant“, die in ihrem Sohn die Reinkarnation des Angebeteten sieht, präsentiert ein Frauenbild der Literatur jener Zeit, in die auch Freuds Erkenntnisse zum Unbewussten eingeflossen sind. Doch welchen Mehrwert hat eine Adaption, wenn sie keinen neuen Schliff, keine neuen Ideen einbringt? Die kurzen eineinviertel Stunden werden wohl so schnell vergessen sein wie die letzten Bilder nächtlicher Träume.
Theater: „Geheimnis einer Unbekannten“, nach Stefan Zweig, Wien, Josefstadt, Termine bis Juni.