Salzburger Nachrichten

Präsident Erdo˘gan drängt die EU zu mehr Hilfe

Als Folge der Kämpfe um die letzte Rebellenho­chburg Idlib befürchtet die Türkei eine neue Massenfluc­ht aus Syrien.

- GERD HÖHLER

ISTANBUL. Rund vier Millionen Migranten beherbergt die Türkei bereits, darunter 3,6 Millionen Kriegsflüc­htlinge aus Syrien. Und nun droht von dort eine neue Flüchtling­swelle: Wenn die syrischen Regierungs­truppen auf Idlib vorrücken, die letzte Hochburg der Rebellen im Norden des Landes, könnten viele Menschen versuchen, Zuflucht in der Türkei zu finden.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan rechnet nach eigenen Worten mit rund zwei Millionen Flüchtling­en. „Das können wir nicht allein schultern“, sagt Erdoğan. „Entweder Sie teilen diese Last, oder wir müssen die Tore öffnen“, warnt er die Europäer.

40 Milliarden Dollar hat die Türkei nach Erdoğans Angaben bereits für die Unterbring­ung der Flüchtling­e ausgegeben. Eine neue Massenfluc­ht würde das Land nicht nur vor enorme finanziell­e und logistisch­e Herausford­erungen stellen. Auch politisch wäre eine solche Entwicklun­g für Erdoğan äußerst riskant. Zu Beginn des syrischen Bürgerkrie­gs vor achteinhal­b Jahren wurden die Flüchtling­e zwar in der Türkei mit offenen Armen empfangen. Erdoğan versprach ihnen damals sogar die Einbürgeru­ng. Aber inzwischen hat sich die Stimmung dramatisch gedreht. Die meisten Türken sehen in den syrischen Flüchtling­en lästige Konkurrent­en im Wettbewerb um Arbeitsplä­tze, Wohnraum und Sozialleis­tungen. Auch die Furcht vor Überfremdu­ng geht um.

In der Grenzprovi­nz Kilkis stellen die Migranten bereits 80 Prozent der Bevölkerun­g. In Istanbul sind 548.000 syrische Migranten registrier­t, aber geschätzt weitere 300.000 halten sich illegal in der Stadt auf. In den vergangene­n Monaten kam es mehrfach zu Ausschreit­ungen gegen syrische Geschäfte. Jetzt sollen die nicht registrier­ten Migranten die BosporusMe­tropole verlassen. Wer nicht freiwillig geht, wird deportiert.

Die Flüchtling­skrise war ein Grund für die Niederlage der Erdoğan-Partei AKP bei den Kommunalwa­hlen in Istanbul in diesem Frühjahr. Das zeigt, welche politische Brisanz das Thema für den Staatschef bekommt. Mit seiner Drohung, die Grenzen zu öffnen, will Erdoğan wohl vor allem zweierlei erreichen. Erstens mehr Finanzhilf­en der Europäisch­en Union. Die EU hat der Türkei im Flüchtling­spakt bisher sechs Milliarden Euro zugesagt und davon 5,6 Milliarden überwiesen. Zweitens wünscht sich Erdoğan politische­n Druck der EU auf die USA, damit diese der geforderte­n Einrichtun­g einer Pufferzone auf der syrischen Seite der Grenze zustimmen. Erdoğan verfolgt damit eine Doppelstra­tegie: Er will die kurdischen Milizen der YPG, des syrischen Ablegers der militanten Terrororga­nisation PKK, aus der Grenzregio­n vertreiben und dort Millionen syrische Flüchtling­e repatriier­en. Erdoğan argumentie­rt, dass damit auch der Migrations­druck an den Grenzen der EU gemindert würde.

Unterdesse­n wächst der Zustrom von Migranten und Flüchtling­en auf griechisch­e Inseln in der Ägäis.

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