Warum Bibel und Geschichte zweierlei sind
Es ist verführerisch, wie Lukas die Geburt Jesu in Bethlehem beschreibt. Er sei allem von Grund auf sorgfältig nachgegangen, betont der Evangelist und zählt genau auf, warum Josef und Maria sich unter Kaiser Augustus und Statthalter Quirinius in Bethlehem in die Steuerlisten eintragen lassen mussten. Warum, so fragt sich der gelernte Christenmensch, sagt dann die Bibeltheologie, dass Jesus in Nazareth geboren sei?
Abgesehen davon, dass es für die Botschaft Jesu völlig egal ist, wo er das Licht der Welt erblickt hat, stehen wir hier vor einem grundlegenden Problem der Schriftreligionen. Judentum, Christentum, Islam und sogar der Buddhismus haben es mit „heiligen Schriften“zu tun, die unter bestimmten historischen Voraussetzungen entstanden sind. Mit viel Zeitkolorit.
Daher gilt erstens, dass das meiste heute nicht mehr wortwörtlich verstanden werden darf. Denn dann geht man sofort in die Falle, in der die Muslime mit dem Koran stecken. Dieser wurde im 8. Jh. in der arabischen Welt verfasst, in der Stammeskriege der Alltag waren. Dadurch ist jene Gewalt in den Koran gelangt, mit der Fundamentalisten heute ihren Krieg gegen Ungläubige rechtfertigen.
Zweitens ist es den Verfassern heiliger Schriften nie um historische Genauigkeit im heutigen Sinne gegangen. Für Lukas war klar, dass die Propheten die Geburt des Messias in Bethlehem vorausgesagt hatten. Also musste Jesus dort geboren sein. Dieser Mythos war so stark, dass jede „historische Tatsache“dagegen verblasste.
Bibel und Koran sind keine Geschichtsbücher. Gott hat die Welt nicht in sechs Tagen erschaffen, obwohl es in der Genesis steht. Jesus ist wohl nicht in Bethlehem geboren, obwohl es im Neuen Testament steht. Denn Lukas ging es nicht um historische Fakten, sondern um die Bedeutung von Jesus. Die damit verbundene historische Unschärfe tut der Glaubwürdigkeit der Bibel oder dem Weihnachtsfest mit der Tradition der Geburtskirche in Bethlehem keinerlei Abbruch. Es verlangt nur, dass wir die Bibel so lesen, wie sie gemeint ist: als christliche „Heilsgeschichte“und nicht als historische Wahrheit.