Ein Anruf bringt den Nervenkitzel
Der Thriller „The Guilty“spielt nur an einem Ort – die Action findet in einer Notrufzentrale statt.
Bis vor Kurzem war Asger (gespielt von Jakob Cedergren) noch Kriminalpolizist. Nun ist er strafversetzt in die Notrufzentrale und genervt von der dortigen Routine, nichts als geklaute Brieftaschen und Beislschlägereien. Bis ein Anruf kommt, der anders ist: Eine panisch klingende Frau ist dran, offenbar ist sie entführt worden, offenbar kann sie nicht frei reden. Asger wird auf einmal hellwach, es ist klar, hier muss er eingreifen. So beginnt „The Guilty“, das mit vielen Publikumspreisen ausgezeichnete Regiedebüt des Dänen Gustav Möller. Speziell bei diesem Film ist: Die Kamera weicht Asger nicht von der Seite, verlässt nie die Notrufzentrale – und doch kommt dieser Thriller nicht zur Ruhe. Wie ihm das gelungen ist, hat Möller im SN-Gespräch beim Zurich Film Festival erläutert. SN: Es gibt derzeit eine ganze Reihe von Filmen aus Skandinavien mit selbst gesetzten Einschränkungen: In „Utøya 22. Juli“ist nie der Täter zu sehen, in „Blind Spot“wird nie geschnitten, und Ihr Film „The Guilty“verlässt nie einen Raum und zeigt alles in Echtzeit. Fördern solche Ein- schränkungen die Kreativität? Gustav Möller: Ja. Wenn man sich eine Möglichkeit verbietet, ist man gezwungen, über andere Wege nachzudenken, und das ist oft viel interessanter. Ich konnte nicht einfach zu einer Explosion schneiden, um Dramatik zu erzeugen, oder in der Zeit vorwärts springen, um eine Charakterentwicklung zu zeigen. Mit Beschränkungen zu arbeiten macht alle aufmerksamer, von den Autoren über die Regie, die Schauspieler, die Kameraperson – alle sind gezwungen, speziell kreativ zu sein. Mit solchen Einschränkungen hat schon die Dogma95-Bewegung gearbeitet, das ist sehr verankert in der Nationalen Filmschule Dänemark. Für uns war das aber keine intellektuelle Entscheidung, wir haben einfach den Film gemacht, den wir selbst gern sehen würden. SN: Es gibt ein paar Filme, die ebenfalls nur an einem Ort spielen und per Telefon die Außenwelt hereinholen, Beispiele wie „Don’t Look Back“, „Phone Booth“, „Buried“. Gab es noch andere Vorbilder? Die klarste Referenz war nicht ein Film, sondern ein US-Podcast namens „Serial“, da geht es um Detektivgeschichten über wahre Verbrechen, die in zehn Kapiteln erzählt werden. Woche für Woche bekommt man mehr Information über die Geschehnisse und die Personen, und durch jede Episode verändert sich meine Vorstellung dieser Orte und Personen, ob sie schuldig sein könnten oder nicht. Das war eine wichtige Inspiration für uns. Abgesehen davon orientieren wir uns an den „New Hollywood“-Filmen der 70er-Jahre. „Taxi Driver“ist einer meiner Lieblingsfilme, der erzählt New York City durch die Augen von Robert DeNiros Rolle. Wir wollten Dänemark porträtieren durch die Ohren von Jakob Cedergrens Rolle. SN: Es ist ungewöhnlich, einen Podcast als Vorbild zu nehmen. Ist Film nicht vor allem ein visuelles Medium? In vielen Filmen kriegt man jedes Stück Information durch Bilder illustriert. In „The Guilty“verlassen wir uns aber auf das Publikum als Koautor. Ich glaube, in Filmen sind die stärksten Bilder jene, die es nicht zu sehen gibt. Denken Sie an den Hai in „Der weiße Hai“, der viel furchteinflößender ist, solange er nicht zu sehen ist: Was im Dunkeln verborgen bleibt, wird zum Stoff von Albträumen. Und Film ist ja nicht nur ein visuelles, sondern ein audiovisuelles Medium. Wir haben die Bilder im Kopf der Zuschauer auch über den Ton zu erzeugen versucht, ob jemand durch ein verlassenes Haus geht oder eine Autoverfolgungsjagd erlebt. SN: Was Sie über das Publikum als Koautor sagen, dürfte der Schlüssel zum großen Erfolg sein: Die Zuschauer werden herausgefordert und nicht berieselt. Ja, wenn ich einen Film schaue, will ich herausgefordert werden, das ist bei „The Guilty“auch so – aber zusätzlich will ich unterhalten werden.
Ich mag Filme nicht, die anstrengend sind und erfordern, dass ich ununterbrochen analytisch bin. Ich will die Zuschauer unterhalten und innerhalb dessen auch herausfordern. Dieser Film hat experimentelle Aspekte, ist aber auch ein Krimi, ein Thriller, all das auch, was sehr populär und einladend ist.