1946 Heimkehr in zerbombte Städte
„Man stolpert auf Schritt und Tritt über Schutt“, erzählt Ernst Lothar, der 1946 aus den USA nach Wien zurückkam.
WIEN. Von der Ferne betrachtet, stand die Stadt noch da. Aber im Näherkommen wurde sichtbar: „Das Erschreckende daran war, dass es trotzdem aussah, als stünde es noch. Die Silhouette stand. Dahinter gähnte aus stehen gebliebenen Mauern, aus ausgebrannten Fenstern das absolute Nichts. Man hatte es im Kino gesehen; die Reporter hatten massenhaft darüber geschrieben; Briefe waren gekommen, die es zu schildern versuchten. Hinter der Wirklichkeit blieb das unvorstellbar zurück. Dass vor den saubergeräumten Ruinen Menschen sichtbar wurden (...) machte das Ganze gespenstischer.“Dies erzählt Ernst Lothar von seiner Ankunft im Jahr 1946.
Der Schriftsteller, Regisseur und einstige Direktor des Josefstädter Theaters in Wien war im März 1938 in die Schweiz geflohen und dann nach New York emigriert. Nachdem er US-Staatsbürger geworden war, kehrte er 1946 als Kulturbeauftragter des US Department of State nach Österreich zurück und war für Entnazifizierungen zuständig. Seine Eindrücke von Wien im Frühling 1946 hat er im Roman „Die Rückkehr“verarbeitet, der 1949 erschienen und jetzt neu aufgelegt ist.
Die zitierte Beschreibung betrifft die Silhouette von Le Havre. Doch wenig später ergeht es dem Romanhelden Felix von Geldern bei der Ankunft in Wien noch grimmiger: „Le Havre war gespenstisch, aber es war eine fremde Stadt“, hingegen sei unter den Schutthaufen Wiens seine Kindheit begraben; „man stolperte auf Schritt und Tritt über Schutt“. Er erkannte „Beweise eines plötzlich in den Abgrund gestürzten, zerrissenen, zerstampften, in die Atome zertrümmerten Daseins“.
Ernst Lothar setzt die Protagonisten von „Die Rückkehr“den Wirbelstürmen von moralischen und ideologischen Konflikten aus. Diese nehmen den ebenso intelligenten wie empfindsamen Felix von Geldern derart mit, dass ihm seine Großmutter Viktoria, eine couragierte, weise Dame, nach der Ankunft in Europa rät: „Wappne dich mit einem bisschen Gleichgültigkeit, mit stoischem Egoismus.“Doch der impulsive Felix schafft das nicht.
Die gnadenlose Direktheit, mit der Ernst Lothar die Wiener im Jahr 1946 porträtiert, gelingt in seiner Außensicht des US-Amerikaners, der sich Österreich angehörig fühlt. Das Heimweh, das Felix – nebst einem Auftrag des Onkels zur Sicherung des Familienvermögens – zur Reise per Schiff und Zug nach Wien getrieben hat, feit ihn gegen Besserwisserei. Seine tiefe Liebe zu Österreich bewahrt ihn vor schnellen Urteilen, doch nicht vor Fragen, die die Grundfesten jeglicher Moral erschüttern.
1946 trifft er in Wien verbitterte, vergrämte, boshafte Menschen. Der einzige Gepäckträger neben den Ruinen des Westbahnhofs begrüßt ihn und Viktoria als Verrückte, die besser zu Hause geblieben wären: „Was kommen die her! Mir ham eh nix z’fressen!“In der Straßenbahn wird die elegant gekleidete Viktoria angepöbelt: „Schaut’s euch die an! Nicht einmal rühren kann sie sich, so ausgfressen is.“Später sieht Felix vor einem Geschäft eine etwa fünfzigköpfige Menschenschlange: Sie stehen um Erbsen an. Erbsen und Polentabrot gehören zu dem wenigen Essbaren, das es noch gibt. Der Hunger grassiert.
Als die Hochzeitsgesellschaft auf dem Kahlenberg zur Jause mit Wein – so Himmli- sches ist nur dank Protektion der US-Besatzer verfügbar – beisammensitzt, finden sich gierig blickende Zuschauer ein, die sich von den Kellnern nicht verjagen lassen, „zerfetzte, armselige Leute, Kinder darunter“. Sie kommen von den Baracken beim ehemaligen Hotel Cobenzl: Vertriebene, DPs, „displaced persons“– typischerweise ehemalige KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter oder aufgrund der Beneš-Dekrete aus Tschechien Vertriebene. Wie viele Zigtausend heimat- und brotlos durch und nach Wien irrten, hat keine Statistik exakt erfasst. Im Roman lässt Ernst Lothar einen von ihnen, „mein Name ist Jellinek, aus Brünn in Mähren“, vor der Hochzeitsgesellschaft herzzerreißend zu Wort kommen.
Hochzeit? Ja, Felix trifft zufällig seine großer Wiener Liebe namens Gertrude. Ein Gebräu aus Heimweh, Verliebtheit und Sehnsucht, acht Jahre Nationalsozialismus zu tilgen, drängt das Paar dazu, stante pede zu heiraten. Für die beiden ist’s blöd, doch für den Plot des Romans ist es toll: Sie ist eine einstige Nazi, die ein Gspusi mit Goebbels ebenso wenig geniert hat wie jetzt, vor dem Wiedersehen mit Felix, eines mit einem US-Oberst. Zum Fest mit den Heimkehrern bringt sie allerlei österreichische Nazis mit. Die einen hassen die anderen als unbelehrbare Verbrecher, die anderen hassen die einen für „Rechtschaffenheitsdünkel und Richteranspruch“. Beide sind und bleiben Österreicher.
Auch Ernst Lothar wurde wieder Österreicher, obgleich er 1946 an Friedrich Torberg schrieb: „War der Nationalsozialismus die Verschwörung zur Austreibung des Talentes, so sind seine Nachfolger ein Provinzverein zur Verhütung der Rückkehr des Talents. Die Klagenfurter und Kremser wünschen unter sich zu bleiben, um nicht bekennen zu müssen, wie mittelmäßig sie sind“(zitiert in: Dagmar Hessler, „Ernst Lothar“, Böhlau 2016).
1952 kam er ins Direktorium der Salzburger Festspiele und inszenierte erstmals den „Jedermann“. Allerdings drohte er zurückzutreten,
„Nach Hitler zurückzukommen ist ein Elementarereignis.“
sollte der des Kommunismus bezichtigte Karl Paryla nicht den Teufel spielen dürfen. Dieser durfte zwar nicht, bekam aber seine Gage. Ernst Lothar berichtete über den Sommer 1952: „Als die Premiere herankam, war ich demnach ein Kommunist, ein Faschist, ein Salzburg entfremdeter amerikanischer Söldling, ein Reinhardt- und HofmannsthalSchänder.“Trotzdem arbeitete er weiter – für Salzburger Festspiele wie Burgtheater. Am 15. Mai 1955 stand er unter dem Balkon des Oberen Belvedere und nahm drei Monate später die österreichische Staatsbürgerschaft an.