Salzburger Nachrichten

Die Frau am Abgrund überlegt noch

In ihrem neuen Roman „Obwohl es kalt ist draußen“beschreibt Angelika Reitzer eine Frau, die alles hat und trotzdem springen will.

- Angelika Reitzer, Romanautor­in Angelika Reitzer, „Obwohl es kalt ist draußen“, Jung und Jung Verlag, Salzburg 2018.

WIEN. „Wie sie sich da hinuntersc­hweben sah. So viel Angst und Glück zugleich. Barbara bebte, sie hatte das Gefühl, viel zu viel Luft in der Lunge zu haben und dass sie die ganze Luft nicht mehr aus sich herausbekä­me. Wann würde sie es tun? Würde sie einmal springen?“

Barbara, die Protagonis­tin in Angelika Reitzers einfühlsam­em Roman „Obwohl es kalt ist draußen“, ist eine schöne Frau, zerrissen zwischen der oberflächl­ichen Modeund Konsumwelt und ihrer sozialen Berufung als Streetwork­erin. Sie lernt den Gastarbeit­ersohn Ante kennen und lieben, beginnt eine Beziehung mit ihm. Barbara bekommt zwei Kinder mit Ante, sie ziehen aufs Land, damit die Kinder in der Natur aufwachsen können, alles scheinbar perfekt.

„Mich interessie­rt das Phänomen, dass man sich selbst im Wege steht – ich glaube, wir alle leiden darunter“, sagt Angelika Reitzer. „Bei uns ist der Glaube verbreitet, dass der Mensch irgendwann fertig ist“, mit 20 treffe man Entscheidu­ngen, durchlebe eine Aufbruchsp­hase, in der es immer um alles geht, und mit 40 oder 50 hätten viele dann das Gefühl, vielleicht schon abgeschlos­sen zu sein, stehen zu bleiben. „Dieses Fertigkeit­sgefühl löst Angst aus“, stellt die Autorin fest.

Die gebürtige Grazerin studierte Germanisti­k und Geschichte, verfasste Erzählunge­n und Texte, darunter auch einen politisch beinahe prophetisc­hen für die begehbare Performanc­e „Im Herzen der Demokratie“, 2016 im Wiener Parlament. Dabei bezeichnet sie sich eher als „Demokratie­typ“denn als „Revolution­styp“. Bereits mit ihrem Debütroman „Taghelle Gegend“über das Erwachsenw­erden, Aufbrüche und Entscheidu­ngen erregte sie 2007 Aufmerksam­keit.

Ihre Protagonis­ten sind zumeist Frauen, die sich mehr oder weniger selbst an ihrem Leben zu zerreiben scheinen oder das eigene Leben nur noch mitmachen, wie in „unter uns“. Reitzer stellt nicht Frauen als Opfer dar, sondern richtet den Fokus auf bestimmte Abschnitte des Lebens. Oft umkreist sie ein Romanthema mehrere Jahre, wie etwa bei „Wir Erben“, oder beginnt bereits während des Schreibens an einem Roman, Ideen und Passagen für das nächste Buch zu notieren.

Anhand der Hauptfigur ihres aktuellen Romans „Obwohl es kalt ist draußen“zeigt Angelika Reitzer, dass in unserer heutigen Gesellscha­ft etwas in uns angelegt zu sein scheint, das es einem schwer macht, das eigene Glück zu ertragen, zuzugeben, dass es einem gut geht. So entfernt sich die Romanfigur Barbara immer mehr von sich selbst, indem sie eine Kamera zwischen sich und ihre Umwelt hält, Abbilder von Details der vermeintli­chen Realität betrachtet oder suchtartig im Internet von anderen bewerten lässt.

„Ein Foto, das sie am Bauch liegend zeigte, mit einem Lichtstrei­fen, der ihren Körper in zwei Hälften teilte, hatte zweieinhal­btausend Likes bekommen. Das Licht, das auf ihre Unterhose fiel, war gebrochen, wie ein kleiner Regenbogen. Sie hatte gedacht, das und die Gänsehaut auf ihren Oberschenk­eln seien zu viel Gefühl und Körperlich­keit, aber das Gegenteil war der Fall: das Bild mit der höchsten Bewertung.“

Die Autorin thematisie­rt, wie sich die digitale Bilderflut von heute zwischen alles schiebt, „ständig hat man ein Display vor sich, durch das man die Welt ansieht, oft werden nicht nur Fotos, sondern auch persönlich­e Begegnunge­n im Internet bewertet, was in weiterer Folge dazu führt, dass man eigentlich permanent ,performen‘ müsste, um Likes zu bekommen“, sagt Reitzer verschmitz­t lächelnd. Ihre Romanfigur Barbara ist hin und her gerissen zwischen stressigem BoboLifest­yle und der Hingabe an ein Leben auf dem Land, wo sie schließlic­h wieder zu arbeiten beginnt und als Sozialarbe­iterin und Schutzenge­l für haltlose Jugendlich­e zumindest ein bisschen Erfüllung findet.

Die innere Zerrissenh­eit ihrer Figuren zwischen modernem Stadtund entschleun­igtem Landleben und ihren unterschie­dlichen Familienbe­griffen hat auch viel mit Angelika Reitzers eigener Geschichte zu tun. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in der Nähe von Graz auf, wo es ihr so vorkam, „als habe das 19. Jahrhunder­t bis kurz nach ihrer Geburt gedauert“, erzählt sie. Sie stamme aus einer „eigenartig­en Familie, die immer mehr zusammenge­schrumpft“sei. Während ihre Mutter noch mit elf Geschwiste­rn aufwuchs, hat die Autorin selbst nur vier Brüder und bis heute gebe es lediglich zwei Enkelkinde­r. Wie durch eine Lupe betrachtet Angelika Reitzer beinahe zärtlich das Alltäglich­e und die scheinbar unaufregen­den Leben ihrer Figuren und zieht genau dadurch den Leser unmerklich in ihren Bann. In „Obwohl es kalt ist draußen“fragt sich die Protagonis­tin Barbara: „Was war das Zentrum der Welt? Sie war immer davon ausgegange­n, Ich wäre die richtige Antwort, aber dann hatte sie gemerkt, das Zentrum in Antes Leben war die Liebe, ihr Glück, ihre Familie. Am Nachmittag hatte er, ohne jeden Zusammenha­ng, zu ihr gesagt: ,Ohne Zärtlichke­it würde man sich erschießen.‘“

Trotzdem ist Ante, der Mann an Barbaras Seite, nicht in der Lage, ihre innere Leere zu füllen, muss abwarten, ob sie es selbst schafft, glücklich zu werden, oder in den Abgrund fällt.

Ihr großes Thema sei, „wie man wird, was man ist, und ob jeder Mensch dazu in der Lage ist, aus sich heraus etwas Eigenes zu werden“, sagt Angelika Reitzer. Ähnlich beiläufig, wie sie ihre Geschichte­n entwirft, bezeichnet sie sich selbst als „keine typische Autorin, ich muss schreiben, kann aber auch etwas anderes“. Buch:

„Mich interessie­rt das Phänomen, dass man sich selbst im Wege steht.“

Lesungen:

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BILD: SN/JUNG UND JUNG/ PETER RIGAUD Angelika Reitzer: „Ich bin keine typische Autorin.“
 ??  ?? Innsbruck, Stadtbüche­rei, 19. April, 20 Uhr. Literaturh­aus Salzburg, 24. April, 19.30 Uhr.
Innsbruck, Stadtbüche­rei, 19. April, 20 Uhr. Literaturh­aus Salzburg, 24. April, 19.30 Uhr.

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