Gewalt? Ist doch halb so wild.
Der Vorschlag, Verbrechen gegen Leib und Leben strenger zu bestrafen, wurde als Wahlkampfgag vom Tisch gewischt. Warum eigentlich?
„ÖVP-Obmann Sebastian Kurz will höhere Strafen bei Gewaltdelikten.“So lautete Anfang dieses Monats der Titel einer APA-Meldung, die teils Skepsis, teils Widerspruch, teils heftige Ablehnung auslöste. Die SPÖ rief den ÖVPChef und Konkurrenten um den Kanzlersessel zur „Besonnenheit“auf. Die Grünen warnten Kurz davor, „sensible Fragen des Strafrechts in den Wahlkampf zu ziehen“. Der Präsident der Richtervereinigung hielt den Vorstoß für „nicht vernünftig“. Teile der Twitteria gerieten außer Rand und Band vor Empörung über den ÖVPChef, hießen ihn einen üblen Populisten und warfen ihm sein nicht abgeschlossenes Jusstudium vor. Der „Falter“verspottete Kurz beziehungsweise dessen Vorschlag in seiner Rubrik „Worüber Wien lacht“.
Ist eine Diskussion über die Angemessenheit von Gerichtsstrafen tatsächlich lachhaft?
Jänner 2017: Ein 22-Jähriger, der in Wien einen Mann per Faustschlag und Fußtritt auf die Gleise der U-Bahn beförderte, erhält drei Monate bedingt.
Februar 2017: Sexuelle Handlungen gegen den Willen der Frau – drei Monate bedingt.
Februar 2017: Vergewaltigung in Wien – zweieinhalb Jahre Haft.
April 2017: Zwei 19-Jährige, die in einer Wiener Schnellbahn grundlos einen Obdachlosen zusammenschlagen, erhalten acht beziehungsweise zwei Monate unbedingte Haft.
Mai 2017: Die Strafe eines Mannes, der im Hallenbad einen Buben vergewaltigte, wird von sieben auf vier Jahre reduziert.
Juni 2017: Vergewaltigung in Graz – zwei Jahre Haft.
Juli 2017: Ein Mann verprügelt seine Kinder und muss dafür 1800 Euro Strafe zahlen.
August 2017: Ein 28-Jähriger, der zwei Frauen attackiert und versucht hatte, sie in sein Auto zu zerren, erhält (nicht rechtskräftig) 18 Monate Haft, davon sechs unbedingt.
August 2017: Ein Mann, der beim Wiener Donauinselfest nur durch Polizeieinsatz daran gehindert werden konnte, eine Frau zu vergewaltigen, wird noch während des Prozesses auf freien Fuß gesetzt.
August 2017: Ein Mann, der seinen minderjährigen Stiefsohn jahrelang missbrauchte, kommt mit einer Bewährungsstrafe davon.
Demgegenüber steht der Salzburger Bürgermeister, der wegen eines Vermögensdelikts (ohne jede Bereicherung für sich oder seine Partei!) nach dem Willen der Richterin für ein Jahr ins Gefängnis soll, nach dem Willen des Staatsanwalts sogar noch länger.
Demgegenüber stehen einstige Unglücksmanager der Kärntner Hypo-Bank, die für Jahre im Gefängnis verschwanden.
Demgegenüber stehen wirre Staatsverweigerer, die von der Justiz gern ohne viel Federlesens in Untersuchungs- beziehungsweise Strafhaft gesteckt werden.
All diese Delikte, all diese Fälle können nicht verglichen werden. Und doch ist ein Muster erkennbar: Delikte gegen Leib und Leben werden vergleichsweise milde bestraft. Delikte gegen Vermögen oder gegen die Integrität des Staates hingegen vergleichsweise streng. Der bereits erwähnte Präsident der Richtervereinigung, Werner Zinkl, hat auch eine Erklärung dafür. Man müsse berücksichtigen, sagte der Richterpräsident der APA, „dass hinter Strafdrohungen auch generalpräventive Gründe liegen“. Doch bei Gewaltdelikten zeige, sagte Zinkl weiter, die Generalprävention wenig Wirkung, da diese meist ungeplant, „aus der Situation heraus“, geschähen. Anders hingegen verhalte sich das bei Finanz- oder Betrugsdelikten. Hier denke der Täter darüber nach und plane die Taten im Vorfeld – und könne durch Strafdrohungen auch abgeschreckt werden.
So weit der Richterpräsident, der damit bekundet, dass Strafgesetzgebung und Rechtssprechung nicht etwa – wie man meinen sollte – die Menschen in den Mittelpunkt rückt, sondern ein abstraktes Ziel namens Generalprävention. Dieses seltsame Denken führt dazu, dass Verbrecher, die andere Menschen zum Krüppel schlagen, die die sexuelle und körperliche Integrität anderer verletzen, die Menschenleben zerstören, vor Gericht mitunter recht billig davonkommen. Sie haben’s ja nicht so gemeint, sie haben ja bloß „aus der Situation heraus“gehandelt. Wer hingegen ein Zinsgeschäft von der Gebietskörperschaft A in die Gebietskörperschaft B verschiebt, den trifft die volle Strenge der Justiz.
Dass der eine niemandem wehgetan hat, dass er niemanden beraubt hat, dass von ihm keinerlei Gefahr für seine Mitmenschen ausgeht – einerlei. Dass die anderen möglicherweise eine Gefahr für die Gesellschaft und für ihre Mitmenschen sind, dass sie nach ihrer milden Strafe ihr gewalttätiges Wirken fortsetzen – einerlei. Darüber wird zu diskutieren sein. Im Wahlkampf und danach.