Tödlicher Kampf ums weiße Pulver
Kokain reist leise und geräuschlos um die Welt. Versteckt in der Fracht von Containerschiffen oder in den Mägen von Drogenkurieren gelangt es nach Europa. Doch die Kämpfe um das weiße Pulver werden in Lateinamerika ausgetragen.
BRASILIA. An der Copacabana sah man am Wochenende Bilder, die für Rio de Janeiros berühmtesten Strand eher selten sind. Neben Touristen in Shorts und Badelatschen patrouillierten bis an die Zähne bewaffnete Soldaten in Kampfmontur. Präsident Michel Temer hatte kurz zuvor die Militarisierung der „Cidade maravilhosa“, der wunderbaren Stadt, angeordnet. 8500 Soldaten und 1500 Polizisten sollen Rio bis Ende kommenden Jahres wieder sicherer machen.
Zu sehr war in den vergangenen Wochen die Gewaltkriminalität in der Olympiastadt von 2016 angestiegen. 20 Morde täglich werden dort im Schnitt verübt. Hauptursache ist, dass die Drogenbanden, die auf Namen wie „Comando Vermelho“, das rote Kommando, hören, nach der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Spielen wieder die Hoheit in den Hunderten Favelas übernommen haben, die an den Hügeln der Stadt kleben. Rio ist wieder auf das Gewaltniveau von 2009 zurückgefallen. Stadt und Umland gehören zu den kriminellsten Regionen Brasiliens. Die explosive Zunahme der Morde, da sind sich die Experten einig, liegt an einem Phänomen, unter dem ganz Lateinamerika leidet: Die organisierte Kriminalität fordert den Staat immer häufiger immer erfolgreicher heraus. Mit anderen Worten: Die Kartelle, die sich vor allem über den wachsenden Drogenhandel und immer öfter auch über andere Delikte finanzieren, regieren ganze Regionen und haben den Staat als Ordnungsmacht verdrängt. Vielerorts ist der Staat zu schwach, und die Sicherheitskräfte sind überfordert. Und auch auf Brasilien trifft zu, was besonders für Mexiko und die Länder Zentralamerikas gilt: Die Polizei ist oft korrupt und steckt mit den Mafias unter einer Decke.
Angetrieben werden die Auseinandersetzungen dabei vor allem durch den globalen Drogenmarkt. Kokain kommt ausschließlich aus Südamerika, und hier vor allem aus Kolumbien. Und die jüngst von dem Thinktank Instituto Igarapé mit Sitz in Rio de Janeiro veröffentlichte Erhebung über die gefährlichsten Städte der Welt führt wie eine Linie entlang der Schmuggelrouten: Kolumbien, Zentralamerika, die Karibik und dann Mexiko bis ins weltweit größte Abnehmerland für südamerikanische Drogen: die USA.
Besserung ist nicht in Sicht. Nach jahrelangem Rückgang hat die Anbaufläche für die Koka-Pflanze in Südamerika zuletzt um 30 Prozent zugelegt, wie der Weltdrogenbericht der Vereinten Nationen feststellt. Rund 250 Millionen Menschen konsumieren weltweit Drogen – in Europa wird pro Jahr Kokain für 5,7 Milliarden Euro abgesetzt.
Aber die Kämpfe um und gegen das weiße Pulver werden in Lateinamerika ausgetragen. Und so wundert es auch nicht, dass vergangenes Jahr 43 der weltweit 50 tödlichsten Städte in Lateinamerika lagen. Acht der zehn gefährlichsten Länder liegen zwischen dem Rio Bravo und Patagonien. El Salvador, Honduras, Guatemala, Mexiko, Brasilien und Kolumbien stechen dabei als besonders gewalttätig heraus. Viele Städte Lateinamerikas sind inzwischen No-go-Areas.
Aber auch in Ländern, die keine Transit- oder Produzentenstaaten sind, ist die Gewalt hoch. Das gilt vor allem für Brasilien, zweitgrößtes Kokainkonsumentenland der Welt. Hier ist vor allem Rio de Janeiro mit seinen 16,5 Millionen Einwohnern und dem attraktiven Markt für das weiße Pulver bei Großkartellen und örtlichen Drogenbanden hart umkämpft. Insgesamt ist Brasilien mit mehr als 56.000 Morden pro Jahr das Land mit der weltweit höchsten Zahl an Tötungsdelikten.
Während in Brasilien fast alle Städte unter hoher Kriminalität leiden, konzentriert sich die Gewalt in anderen Ländern auf einige Hotspots.
Vor allem in den kleinen zentralamerikanischen Staaten regieren schon lange die „Maras“genannten Jugendbanden, die zum Teil für die mexikanischen Drogenkartelle die Schmutzarbeit erledigen und zum Teil einfach auf eigene Rechnung die Bevölkerung mit Entführung, Schutzgelderpressung und Morden terrorisieren. Die honduranische Industriemetropole San Pedro Sula und San Salvador, die Hauptstadt El Salvadors, gehören seit Jahren zu den drei tödlichsten Städten der Welt. Die Polizei kann nur in großen Razzien und Einsätzen ab und zu einige Bandenmitglieder festnehmen. So wie vergangene Woche, als Sicherheitskräfte knapp 600 jugendliche Gewalttäter aus dem Verkehr zogen. El Salvador, kaum so groß wie Hessen, war 2015 und 2016 mit 103 beziehungsweise 91 Morden pro 100.000 Einwohner laut dem Igarapé-Institut das tödlichste Land der Welt.
Und in Mexiko, wo im Juni die traurige Rekordzahl von 2234 Morden erreicht wurde, hat die Gewalt der Drogenkartelle längst auch die Touristenzentren erreicht. In der jüngsten Zeit ist vor allem Cancún an der Karibik-Küste betroffen. Schon seit Jahren ist Acapulco, die einstige Perle am Pazifik, die tödlichste Stadt Mexikos. Vergangenes Jahr wurden 108 Morde auf 100.000 Einwohner gezählt. Zum Vergleich: Im Landesschnitt lag die Zahl gerade einmal bei 17. In Acapulco kämpfen rivalisierende Banden um den attraktiven Markt in dem Urlaubsort. Und zudem werden an den nahen Küsten Drogen angelandet, die über den Seeweg aus Südamerika gekommen sind und über den Landweg weiter in die USA transportiert werden.