Ein Esel küsst vor Publikum
I-Ah! Iii-Aahhh! Mit diesen Rufen eines Mannes mit großen Ohren eröffnet Österreichs größtes Tanzfestival. Und einige Besucher fragen sich bald: Wer ist da der Esel?
Was für ein heftiger Kuss! Da geht man abends ins Museum und da kommt ein toller Belgier: smarter Anzug, brave Brille, Krawatte. Er hat sich Eselsohren um die Stirn gebunden, schreit etwa eine halbe Stunde lang I-Ah, I-Aaaahhhh, Iiii-Aah, schnappt sich eine junge Frau und küsst und küsst. Der Kuss beginnt kurz nach 22 Uhr in den Tiefen des Leopold Museum in Wien, wo eine Ausstellung dem Performancekünstler Jan Fabre gewidmet ist.
Im zweiten Untergeschoß ist an Wänden und in Vitrinen zu erkunden, wie konsequent, nachdenkend, schreibend, zeichnend sich dieser Künstler aus Antwerpen seinen Solo-Performances hingegeben hat. Er scheut keine Peinlichkeit – sei es Schweineaugen werfen, die eigenen Wadeln mit Schmirgelpapier blutig reiben, in Tokio betteln oder untrainiert einem Eddy-MerckxRekord entgegenradeln. „Ich will keine Performance wiederholen“, ist als Zitat Jan Fabres zu lesen. Das Wiederholen würde die Essenz einer Performance zerstören; und er müsste sich anmaßen, Fähigkeiten eines Schauspielers zu haben. Aber: „Ein Künstler ist kein Schauspieler!“
Weil auch diese Performance (zu deutsch: schauspielerische Darbietung) des nicht schauspielenden Jan Fabre nur ein Mal stattgefunden hat, war das Paar von Kamerateams und Fotografen umzingelt, um das ephemere Ereignis des Kusses für Nachwelt, Galeristen und vermutlich eine nächste Jan-Fabre-Schau festzuhalten. Damit wurde am Donnerstagabend Österreichs größtes Tanzfestival eröffnet. Bis 13. August sind bei Impulstanz ausländische und österreichische Tänzer und Choreografen zu erleben; dies wird mit 105 Workshops begleitet.
Infolge der angepriesenen Einmaligkeit quoll das Leopold Museum über vor Publikum – inklusive derzeitigem und früherem Kulturminister Thomas Drozda und Josef Ostermayer. Rund 40 Minuten vor Kussbeginn hatten sich Hunderte Stehende in die Halle geschlichtet und harrten brav des Künstlers. Ob er erschien, war nicht zu erkennen. Zu sehen gab es nur Köpfe anderer Zuschauer. Versuche, mit hochgehaltenem Smartphone etwas vom Meister zu erhaschen, scheiterten an dem vom Aufsichtspersonal zugefauchtem Fotoverbot. „Jetzt habe ich 25 Euro gezahlt und sehe: nichts“, klagte eine Besucherin.
Zu hören waren I-Aah-Schreie. Dazwischen rief Jan Fabre den Titel seiner Performnace: „I am a mistake“oder „I am a mistake, because I am my worst enemy“oder „I am a mistake, because I am a stupid dwarf“oder „I like to kiss Austrian women“. Dazwischen bewegte er sich – samt Foto- und Filmteams – so durch den Raum, dass fast jeder ihm und den Eselsohren nah sein durfte. Einmal stellte er sich an die Wand, drückte die Nase flach und brüllte ins Gemäuer: „I am a mistake! – I-Ahhhh.“Dann ging er eine Treppe hinauf und ein Publikumsschwarm folgte ihm. Er hielt inne – oje, falscher Weg! Alle mussten sich zurückquetschen. Da zischelte eine Besucherin: „Der hält uns zum Narren! Wer ist da der Esel – der oder wir?“Eine andere gestand: Ihr sei es peinlich, sehen zu müssen, wenn sich einer – wie soeben Jan Fabre – als bestraftes, gedemütigtes Schulkind in eine Ecke stelle, ja hinkniee!
Überhaupt löste sich die bürgerliche Stille des Publikums auf – erst in leises Kommentieren, dann in Plaudereien über irgendetwas oder darüber, was Jan Fabre uns zumute, ob das Publikum in mindestens so hermetischer Rolle stecke wie ein Darsteller, ob es hier langweilig sei oder ob sich nur langweile, wer keine Fantasie habe. Was ist eine Performance? Oder: Was ist Kunst? Wenn ein Bild nicht gefällt, ist es schlecht? Oder ist man selbst fad, müde oder kennt sich nicht aus?
Derweil hatte Jan Fabre die Frau im schwarzem Dirndl gepackt und küsste. Manche empörte das: Ist das frauenfeindlich? Degoutant? Porno? Insgesamt aber war die Stimmung locker und heiter. Wer nicht in der Nähe der Schmuser war, konnte über Bildschirme verfolgen, wie sie fast eineinhalb Stunden mit allerlei Körper- und Zungenakrobatik küssend lagen, standen und lehnten, sich küssend auf Stiegen verrenkten und emporrobbten. Das Küssen war wie Jan Fabres Sätze: Erst lauscht man, schaut, sucht zu verstehen, ist berührt. Mit jedem Wiederholen verdümpelt der Inhalt, die Neugier versiegt, es bleibt aber die Form – wie eine Tanzfigur.
„Keine Performance will ich wiederholen.“Jan Fabre, Künstler