Zukunft der 27 soll Vorrang haben vor Brexit-Gesprächen
Die Zahl der Migranten auf der Mittelmeerroute steigt. Die EU-Staats- und -Regierungschefs überlegen, warum die bisherigen Maßnahmen nicht greifen.
Die Brexit-Verhandlungen standen am Donnerstag auf der Tagesordnung des EU-Gipfels in Brüssel. Sie sind beim zweitägigen Treffen der Staats- und Regierungschefs aber nur eines von vielen Themen wie Verteidigung, Handel oder Migration. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel betonte den „Vorrang der Zukunft der 27 vor den Brexit-Verhandlungen“. Sie setzt auf neue Impulse durch Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, der erstmals dabei war (im Bild mit Merkel und der britischen Premierministerin Theresa May).
BRÜSSEL, WIEN. Vor knapp fünf Monaten haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU bei einem Sondergipfel auf Malta auf ein ganzes Bouquet an Maßnahmen verständigt, um den Migrationsstrom über die zentrale Mittelmeerroute einzudämmen. Passiert ist das Gegenteil. Seit Jahresbeginn sind laut dem UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR 70.000 Menschen in Italien angekommen, gut ein Viertel mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Knapp 2000 Menschen sind bei der gefährlichen Überfahrt ertrunken. Die meisten der 2017 eingetroffenen Migranten stammen aus Guinea, Nigeria, Bangladesch und Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste).
Bei ihrem regulären Gipfeltreffen gestern, Donnerstag, und heute, Freitag, werden die EU-Chefs das Thema daher wieder aufgreifen und übereinkommen, dass man „alle Mittel“nutzen müsse, um den Zustrom zu verringern. Das Schlüsselelement sei das Training für die libysche Küstenwache, es sollte beschleunigt werden.
Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat diese Woche die bisherigen Fortschritte betont. 100 Schlepper seien festgenommen und 400 Boote zerstört worden. Aus dem Niger seien bis Mai nur noch 5000 Menschen nach Libyen gekommen, verglichen mit 70.000 im Jahr davor, dank der guten Kooperation mit der Regierung im Niger und Hilfsorganisationen. Es habe 4500 Rückführungen nach Libyen gegeben, nach 2000 im Jahr davor. Außerdem habe die libysche Küstenwache in den vergangenen Wochen und Monaten 16.000 Menschen gerettet – und nach Libyen zurückgebracht.
Dort warten nach Schätzungen 600.000 Migranten auf ihre Chance, nach Europa zu kommen. Seit dem Anlaufen der Rettungsmissionen koste die Überfahrt nur noch 70 bis 80 Euro, sagt ein Kenner der Situation in Brüssel. Allerdings würden nur noch Gummiboote eingesetzt, die mittlerweile in Libyen hergestellt würden, oft ohne Motor. „Billiger, aber tödlicher“, sagt er.
Dass es in Libyen, wo seit dem Sturz des Diktators Muammar alGadafi Bürgerkrieg herrscht, in absehbarer Zeit EU-Flüchtlingszentren geben könnte (wie das etwa in Österreich gefordert wird), sei „eine eher theoretische Debatte“, sagte Matthias Ruete, Generaldirektor für Migration und Inneres in der EUKommission, diese Woche in Brüssel. Denn Libyen erfülle ebenso wenig wie die meisten seiner Nachbarn die Kriterien, die etwa die Genfer Flüchtlingskonvention vorsehe. Länder wie Tunesien haben ohnehin ausgeschlossen, solche Zentren einzurichten.
Italien versorgt etwa 180.000 Flüchtlinge in Hotspots und anderen Einrichtungen. Wie viele Migranten im Land aufhältig sind, ist nicht so klar. Erst im April hatte der EU-Rechnungshof kritisiert, dass nur vier der sechs in Italien geplanten Hotspots zur Identifizierung und Registrierung von Flüchtlingen in Betrieb seien, dort aber alle Ankommenden registriert würden. Auch Italiens Innenminister Marco Minniti hat die Fortschritte seines Landes im Umgang mit den ankommenden Migranten betont. „Hundert Prozent aller Ankommenden werden heute registriert. Wir arbeiten mit Österreich, der Schweiz und Slowenien zusammen, um die sekundäre Bewegung zu verhindern, also dass Migranten in andere Länder weiterreisen.“
Die jüngsten Zahlen der Tiroler Polizei bestätigten das. Insgesamt wurden in diesem Jahr (bis zum Stichtag 18. Juni) auf österreichischer Seite 3339 Migranten aufgegriffen, die illegal über die Grenze gekommen sind. 1851 davon wurden auf der Bahnstrecke aufgegriffen, was auf dieser Route einen Rückgang von 73,15 Prozent gegenüber demselben Zeitraum des Vorjahres bedeutet. Systematische Grenzkontrollen gibt es am Brenner nicht. Österreich hatte im Vorjahr alle Vorbereitungen dafür getroffen, die Maßnahmen sind aber nie in Kraft getreten. Die EU-Kommission hatte sich von Anfang an dagegen ausgesprochen.
Außenminister und ÖVP-Chef Sebastian Kurz, der beim traditionellen Vorgipfeltreffen der Europäischen Volkspartei (EVP) in Brüssel war, bekräftigte seine Forderung, die Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern zu verstärken und nicht nur finanzielle Anreize zu bieten, sondern auch Druck auszuüben. Ländern, die nicht kooperativ seien, solle die finanzielle Unterstützung gestrichen werden.