Salzburger Nachrichten

450 Kilometer für die Gerechtigk­eit

Türkische Opposition­elle marschiere­n gegen Verhaftung­en. Illegal, sagt Staatschef Erdoğan.

- SN, n-ost

ISTANBUL. Seit sieben Tagen ist Kemal Kılıçdaroğ­lu unterwegs, rund 130 Kilometer hat er bereits zurückgele­gt. Der 68-jährige Chef der türkischen Opposition­spartei CHP trägt ein Plakat vor sich, auf dem in roten Buchstaben einzig das Wort „adalet“steht – Gerechtigk­eit. Anlass des Protestzug­es: Vor einer Woche hatte ein Istanbuler Gericht den CHP-Abgeordnet­en Enis Berberoğlu wegen Geheimnisv­errats zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er soll Material, das angeblich Waffenlief­erungen des türkischen Geheimdien­stes an Islamisten in Syrien belegt, der regierungs­kritischen Zeitung „Cumhuriyet“zugespielt haben.

Nachdem bereits mehr als ein Dutzend Abgeordnet­e der prokurdisc­hen Partei HDP hinter Gittern sitzen, wurde mit Berberoğlu jetzt erstmals auch ein Parlamenta­rier der größten Opposition­spartei inhaftiert. Fraktionsc­hef Engin Altay spricht von „Staatstyra­nnei“gegen seine Partei. „Es reicht“, rief der CHP-Vorsitzend­e Kılıçdaroğ­lu, als er seinen Gerechtigk­eitsmarsch vergangene Woche im Güven-Park von Ankara startete. Am Mittwoch lagen noch rund 320 Kilometer vor den Demonstran­ten. In 18 Tagen wollen sie den Bosporus erreichen. Ziel des Marsches ist das MaltepeGef­ängnis, in dem Berberoğlu inhaftiert wurde.

Eine Massenbewe­gung ist es nicht, nur einige Tausend Menschen sind auf den Beinen. Die Regierung könnte den Marsch ignorieren. Aber der Protest scheint einen wunden Punkt zu treffen. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan bezeichnet den Marsch als illegal. Es sei verfassung­swidrig, Menschen zu Protesten auf die Straßen zu rufen. Damit mache sich Kılıçdaroğ­lu mit den Putschiste­n vom Juli gemein. Erdoğan tituliert den Opposition­schef als „Lügenmasch­ine“und droht ihm. „Sie sollten nicht überrascht sein, wenn die Justizbehö­rden Sie morgen irgendwohi­n zitieren.“

Kılıçdaroğ­lu kontert, Erdoğan sei ein „Diktator“, der versuche, die Justiz zu beeinfluss­en. An Richter appelliert er: „Urteilt nicht nach den Anordnunge­n aus dem Palast!“

Mit der im April in einer Volksabsti­mmung knapp gebilligte­n Verfassung­sänderung hat Erdoğan seinen Einfluss auf die Justiz erheblich ausgeweite­t. Der Staatschef entscheide­t über die Berufung führender Richter und Staatsanwä­lte. Regierungs­kritische Justizbeam­te würden zunehmend kaltgestel­lt und durch Erdoğan-Gefolgsleu­te ersetzt, berichten Insider. Und immer häufiger schwingt sich Erdoğan selbst zum Richter auf. Ein Beispiel dafür ist das Verfahren gegen den deutschen Journalist­en Deniz Yücel. Der „Welt“-Korrespond­ent sitzt seit Ende Februar in Untersuchu­ngshaft. Bisher gibt es nicht einmal eine Anklagesch­rift. Aber Erdoğan hat das Urteil bereits gesprochen: Er bezeichnet Yücel öffentlich als „Spion“und „Terrorist“.

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