„Jetzt bin ich selbst ein Kalksburger“
Edwin P. wird in Kürze in Europas größter Suchtklinik, dem Anton-Proksch-Institut in Kalksburg, einchecken. In acht Wochen soll aus einem, der sich als gescheitert bezeichnet, ein lebensbejahender Mensch werden. Ist das überhaupt möglich?
Er erzählt die Geschichte gern: 16 sei er gewesen, da habe er mit seinen Kumpanen Mäxchen gespielt. Ein simples Würfelspiel, und somit ideal, um schnell betrunken zu werden. Alkohol war jedoch für Edwin P. damals noch kein Thema, deshalb handelte er sich aus, dass er im Falle einer Niederlage einen Viertelliter Wasser trinken musste. Er verlor ein ums andere Mal. „Am Ende war ich der Erste, der gekotzt hat“, erinnert er sich.
Das ist lange her. Und, ehrlich gesagt: Gar so gern erzählt er die Geschichte nicht mehr. Denn – um es kurz zu machen – bei seiner Abstinenz blieb es nicht. Die Jahre zogen ins Land, Jobs und Beziehungen kamen und gingen. Was blieb, waren Existenzängste, Alimente für ein Kind, zu dem er kaum eine Beziehung hat, Depressionen und nur eine Leidenschaft: die für weichen Cognac. „Wenn ich das, was ich erreicht habe, mit den Plänen vergleiche, die ich einst geschmiedet hatte, dann muss ich sagen: Im Grunde bin ich gescheitert.“Edwin P., gerade in seinen Vierzigern angekommen, wird in Kürze in Kalksburg einchecken. Weil er ohne die Sauferei, wie er seine Abhängigkeit bezeichnet, nicht mehr leben könne. Kalksburg – ein Symbolbegriff, ein in den allgemeinen Sprachgebrauch längst eingesickerter Begriff für das Alkoholproblem. „Als ich ein Kind war, haben sie zum damaligen Bürgermeister Leopold Gratz immer Kalksburger gesagt. Was damit gemeint war, hab ich erst später verstanden. Und jetzt bin ich selbst einer“, lacht Edwin P. kurz.
Bier und Wein schmeckten ihm heute noch nicht, das sei einfach nicht seines, meint der Großhandelskaufmann. Seinen Job habe er schon lange nur noch deshalb, damit er all die Rechnungen bezahlen kann, die ins Haus flattern. Dinge wie Selbstverwirklichung und Kreativität sind ihm fremd geworden. Dennoch oder gerade deshalb hat sich Edwin P. entschlossen, um seine wahrscheinlich letzte Chance zu kämpfen. Freunde, die ihm zu diesem Schritt hätten raten können, gibt es nicht (mehr). „Ein Arzt hat gemeint, dass ich zur Suchtberatung gehen soll.“Von da an ging es schnell. Bei den Mengen, die Edwin P. tagtäglich konsumierte, war rasches Handeln gefragt. Nur so viel: Die Mengen maß er zuletzt nicht mehr in Gläsern. Darum wird er in Kürze einen kleinen Koffer packen. Kleidung, Waschzeug, ein paar Bücher, zu denen er sich zwingen werde, wie er kämpferisch hinzufügt. Für seine Arbeitskollegen ist er verreist: Kuba. Der „langersehnte Traumurlaub“, wie er den Kalksburg-Aufenthalt in seinem sozialen Mikrokosmos umschreibt.
Kalksburg also. Allein die Anschrift klingt nach Erholung und Seelenfrieden: Gräfin-Zichy-Straße. Rundherum nur Bäume, Wald, der plätschernde Liesingbach, Lainzer Tiergarten. Das Anton-ProkschInstitut (API), wie „Kalksburg“in Wahrheit heißt, Europas größte Suchtklinik, hält sich im dichten Wiener Grüngürtel versteckt. Regeln gibt es zwar, doch ein Großteil der Therapie firmiert unter Selbstverantwortung. Man wird nicht eingewiesen, man entscheidet sich freiwillig zu einem Aufenthalt. Und wer nicht mehr mag, kann jederzeit gehen. Klingt nach gemütlichem Kuraufenthalt?
Mitnichten. Edwin P. hat noch keinerlei Erfahrungen mit Entzug. Auf ihn warten harte acht Wochen. Vielleicht die härtesten in seinem bisherigen Leben. Damit keine Missverständnisse aufkommen: „Das sind alles schwer leidende Menschen“, sagt Michael Musalek, der Leiter des Instituts. Der international hoch angesehene Psychotherapeut und Psychiater hat die Behandlung von Suchtkranken auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben. Galt früher die Abstinenz als oberstes Ziel, so ist es heute die komplette Neugestaltung des Lebens. Orpheus-Programm nennt sich diese von Musalek begründete Therapieform. Dabei wird versucht, die Leidenschaften und Interessen der Patienten zu ergründen und zu fördern. Sei es nun Fitness, Natur, Philosophie, Musik oder Kunst. In Kürze soll noch ein weiteres Modul hinzukommen – Kochen. „Es ist eine sehr meditative Tätigkeit und fördert sowohl die Kreativität als auch das Gemeinschaftsgefühl ungemein“, schwärmt Musalek. Und wenn er dann noch sagt, dass die Erfolgsquote bei der Heilung der Alkoholkrankheit bei 80 Prozent liegt, könnte man fast wieder glauben, dass die Zeit in Kalksburg so schwierig nicht sein könne.
Doch genau darin liegt auch die Gefahr: das Unterschätzen des Gesamtzustands. „Die Suchtkrankheit kommt nie allein. Meist ist sie eingebunden in eine Depression. Erst die sorgt dafür, dass alles außer Kontrolle gerät“, erklärt Musalek. Das gelte übrigens nicht nur für Alkohol. Auch Glücksspiel-, Kauf-, Arbeits- und Onlinesucht wird in Kalksburg behandelt. 10.000 Patienten sind es pro Jahr. 300 Betten stehen zur Verfügung.
Was Edwin P. maximal ahnen kann: Er wird acht Wochen auf engstem Raum mit Leidensgenossen zusammenleben. Und dabei könnte es schon vorkommen, dass ihm heimlich der eine oder andere Schluck angeboten wird. Oder dass er sich von den Stimmungsschwankungen mitreißen lässt. Oder dass es ihm schwerfällt, sich für eines der Module zu begeistern. Edwin P. gehört zur Gruppe der „Eigenmotivierten“, also zu jenen, die um ihre Krankheit wissen und den Kampf so rasch wie möglich aufnehmen wollen. Das sei, so Musalek, eine ausgezeichnete Voraussetzung für die Heilung. Garantie ist es keine.
„Die Sucht kommt nie allein.“ Michael Musalek, Leiter des API