Metternich
Sein Name ist heute noch ein Reizwort. Er wurde gefürchtet und gehasst, verehrt und geliebt. Feinde wie Freunde haben zwar seit jeher anerkannt, dass der Mann, der den Wiener Kongress 1814/15 zum Erfolg für ganz Europa führte, ein politisches Ausnahmetale
Nur auf dem Begriff der Ordnung kann jener der Freiheit ruhen. Clemens Fürst von Metternich
Napoleons größter Fehler war es, Metternich zu unterschätzen.
Europa wurde mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses nach 1815 völlig neu geordnet. Unter Historikern unbestritten ist die herausragende Rolle, die Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich, damals österreichischer Außenminister, dabei spielte: Es war wesentlich seinem politischen Geschick und seiner Haltung zu verdanken, dass der Kongress ein Erfolg wurde und nicht als Fiasko endete – auch zu jenem Zeitpunkt nicht, als Napoleon aus dem Exil auf Elba zurückkehrte und erneut nach der Macht griff.
Durch Mäßigung und Ausgleich, durch sorgsames Austarieren aller Machtansprüche und Schlichtung der Interessenkonflikte kam unter Metternichs Leitung eine Friedensordnung zustande, die Jahrzehnte Bestand hatte. Es war ein Aufatmen, das der Kontinent dringend brauchte. Er war wirtschaftlich schwer angeschlagen und zerstört. Millionen Bürger mussten die Folgen tragen. Millionen waren in den Tod gehetzt worden. Napoleon, von eigenen Gnaden seit 1804 Kaiser der Franzosen, hatte die europäische Welt seit 1795 etwa 20 Jahre lang mit brutalen Eroberungsschlachten – die weitaus schlimmer waren als der Dreißigjährige Krieg – für sein Ziel „Universalmonarchie“an den Rand des Ruins getrieben. Sein Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord notierte schon 1805 angesichts der Schlacht von Austerlitz angewidert: „Nichts als tote, blutige, zerrissene Körper und das Ächzen Schwerverwundeter und Sterbender. Der Anblick war mir so entsetzlich und grauenvoll, dass ich ihn im Leben nie vergessen werde.“Von einer Universalmonarchie, die nur Despotie sein konnte, hielt Talleyrand nichts, darin war er sich mit Metternich einig. Stabilität war nach Meinung beider Diplomaten nur mit dem politischen Gleichgewicht aller Mächte in Europa zu erringen. Talleyrand sollte auf dem Wiener Kongress Metternichs Verbündeter werden. Die Männer hatten einander schätzen und vertrauen gelernt, als Metternich Botschafter Österreichs in Paris wurde.
Am 10. August 1806 trat Metternich im Audienzsaal des Schlosses von St. Cloud Napoleon zum ersten Mal persönlich gegenüber. Der Kaiser war ihm gewogen, er hatte seine Bestellung favorisiert. Metternich blieb dennoch ein kritischer und distanzierter Beobachter. In den folgenden drei Jahren seines diplomatischen Dienstes studierte er seinen Gegenpart in allen Einzelheiten. Die Schwächen waren bald ausgemacht: Napoleon mühte sich ab, seine einfache Herkunft mit pseudoadeligem Glanz zu kaschieren. Er inszenierte sich pompös und baute einen gewaltigen Propagandaapparat auf, um seine Herrschaft ideologisch zu begründen. Er rang um Größe und Ebenbürtigkeit mit dem Geburtsadel. Er betrieb extreme Günstlingswirtschaft. Gegenüber politisch erzeugtem Unglück und menschlichem Leid blieb er gleichgültig bis zur Menschenverachtung. Metternich nahm auch die Stärken wahr: Er sah das Charisma eines Mannes der Tat und der unbändigen Willensstärke. Er sah Scharfsinn, schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, Ursachen einzuschätzen und Folgen vorauszusehen. Er erkannte, dass dieser Mann sich niemals vertraglich disziplinieren und begrenzen lassen würde. All dieses Wissen dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass es Metternich langfristig gelang, Strategien auszuarbeiten, die den Sturz der napoleonischen Universalmonarchie besiegelten. Der Wiener Kongress wurde zu seinem größten politischen Triumph.
Hätte er sich danach zurückgezogen, wäre es dabei geblieben. Doch wollte er mit 42 Jahren Privatier sein? Kaum. Sein Lebensvorhaben war nicht vollendet: Er hatte als junger Mann erlebt, was der Terror der Französischen Revolution anrichtete, dann den Terror Napoleons gesehen. Das traumatisierte Europa brauchte seiner Meinung nach eine umfassende Sicherheits- und Friedenspolitik. Nie wieder sollten Zustände einkehren, in denen sozial und politisch kein Stein auf dem anderen blieb.
Dies führte zu einer Kehrtwende im Urteil über ihn, zu einer „Wetterscheide“, wie es der deutsche Historiker Wolfram Siemann ausdrückt. Von da an galt Metternich vor allem in Österreich als Mann der Restauration, der rigiden Überwachung von Presse und Literatur, er galt als einer, der liberale und nationale Bewegungen im Keim ersticken und Reformen verhindern wollte.
Wolfram Siemann hat jüngst eine herausragende Biografie des Staatsmannes vorgelegt. Als „einziger Historiker, der alle Kartons in den Händen hatte“kommt er jedoch nach neunjährigen Recherchen in bis dahin nicht eingesehenen Dokumenten des Nachlasses zu anderen Schlüssen. Für ihn ist die Geschichte Metternichs vor allem aus den Zeitumständen heraus zu betrachten. Sie war neu zu schreiben.
Der Vorwurf der Restauration eines Ancien Régime etwa, also einer vorrevolutionären Regierungsform, ist damit nicht haltbar: An die Stelle des 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reichs trat nach dem Wiener Kongress der Deutsche Bund, der Zusammenschluss der deutschen Fürsten, zu denen auch Österreich gehörte. Die Mitgliedsstaaten behielten ihre Souveränität. Metternich dachte gesamteuropäisch, nicht national, um eine neue Despotie zu verhindern. Sein Vorbild war England, das er mehrmals bereist hatte. Das Land verfügte über die damals fortschrittlichste Gesellschaft mit der 1688 eingeführten parlamentarischen Monarchie, in der die Macht nicht beim König, sondern bei einem gewählten Parlament lag. Die Bundesakte des Deutschen Bundes sah die Einführung von Verfassungen in den Bundesländern vor, doch viele Monarchen zögerten, Macht abzugeben. So auch die Habsburger. Metternich schrieb frühzeitig Reformpapiere. Sie landeten in den kaiserlichen Schubladen. „Metternich hatte die Vorstellung von einer Verfassung, die Gewaltenteilung festschreibt und eine Gesellschaft möglich macht, in der man nicht dank seiner adeligen Geburt, sondern kraft seiner Leistung aufsteigen kann. Er wollte ein Verfassungsgericht zur Kontrolle der Regierung. Er wollte einen starken Staat, der Freiheiten gibt und Grundrechte garantiert. Er wollte wirtschaftliche Reformen, die mit den Neuerungen der industriellen Revolution Schritt hielten – wie er sie auf seinen eigenen Gütern umsetzte. Er wollte freien Warenverkehr“, sagt Wolfram Siemann.
Dies alles ist freilich nicht nach modernen Maßstäben zu messen, vor allem die politischen Handlungsoptionen damals wa- ren nicht jene von heute. Eine sofortige komplette Abschaffung der Monarchien hätte ein Machtvakuum mit nicht abzuschätzenden Konsequenzen geschaffen. Das zeigt allein schon der Blick auf die Französische Revolution, die in eine Diktatur und wiederum in eine Monarchie mündete, weil Prozesse der Demokratisierung Zeit brauchen. Sie benötigen zudem mündige Bürger. Die Hälfte der jeweiligen europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts konnte weder lesen noch schreiben.
Der Blick in das Syrien des Jahres 2016 gibt zudem ein Gefühl dafür, wie Revolutionen ihre Dynamik entwickeln, wie rasch politische Systeme kollabieren, ohne dass sich an ihrer Stelle Neues bildet, wie schnell und dauerhaft die Wirtschaft am Boden liegt, wie unter diesen Umständen kein auch nur einigermaßen normales Leben mehr möglich ist. Metternich hatte sich die Erfahrung solch brutaler Brüche eingebrannt.
Für die Österreicher ist Metternich der Mann von Polizeistaat und Zensur. Auch das ist neu zu bewerten: Die Minister der Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes berieten sich 1819 im böhmischen Kurort Karlsbad über die politischen Unruhen, die seit 1817 ein im Sinne der Staatssicherheit nicht mehr tolerierbares Ausmaß angenommen hatten. Eine Minderheit deutscher Studenten und Professoren hatte sich zunächst als Speerspitze nationaler Befreiung organisiert. Für diese „heilige Sache“der Vaterlandsliebe riefen sie dann zu Morden und Anschlägen auf. Der Burschenschafter Carl Ludwig Sand erstach den Theaterschriftsteller August von Kotzebue, der die burschenschaftlichen Ideale kritisierte und das Feindbild der Deutschnationalen war. Auch weil Kotzebue für die Gleichstellung der Juden eintrat. Nach der Tat, für die Sand hingerichtet wurde, kam es in etlichen Städten zu Pogromen an Juden. Die radikale Presse solidarisierte sich mit Sand und seiner Tat. Die Minister entschieden, dass dagegen vorgegangen werden musste. Mit den „Karlsbader Beschlüssen“wurde die Überwachung der Universitäten und der Presse verfügt sowie eine Untersuchungskommission für „verräterische Umtriebe“gegründet. Die Burschenschaften waren bald verboten.
Die Gesetze fesselten allerdings auch gemäßigte liberale und nationale Bewegungen, jene, die Reformen auf vernünftige Weise hätten anstoßen können. „Dass Metternich die Presse manipulieren wollte, ist nicht zu bestreiten. Er erkannte früh ihre Macht“, sagt Wolfram Siemann, „von einem Polizeistaat nach heutigem Verständnis war man dennoch weit entfernt. Es gab keinen Gulag, keine systematische Verfolgung privater Leute. Die polizeiliche Ausstattung war mangelhaft. Die Briefkontrolle entsprach heutiger nachrichtendienstlicher Arbeit. Heute ist auch klar, dass Volksverhetzung, Aufrufe zu Terror, zu Attentaten, zur Verunglimpfung von Religion in Publikationen nicht zugelassen werden konnten. Die Presse hatte sich damals noch keine ethische Selbstverpflichtung auferlegt. Ein Medienrecht gab es nicht. Die Grundfragen nicht zuletzt für Metternich waren: Wie sichert sich der Staat? Wie bleibt er funktionstüchtig? Ist es ein Kampf um Freiheit, wenn man Andersdenkende tötet?“
Verschleppte Reformen, Nationalismus, die Grenzen von Meinungsfreiheit, Volksverhetzung, Despotie und Terror sind wieder Themen unserer Zeit. Der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker stellte einst fest: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie wiederholt ihre Lehren.“Wolfram Siemanns „neuer“Metternich regt in diesem Sinne nicht zuletzt dazu an, über das rechte Maß von Ordnung und Freiheit nachzudenken.