Salzburger Nachrichten

Wie viel Strahlung ist gefährlich?

Tokio will die Menschen in die nach dem Fukushima-GAU evakuierte­n Gebiete zurückschi­cken. Die gesetzlich erlaubten Höchstwert­e radioaktiv­er Strahlung wurden dafür extra erhöht.

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Vor dem Atomunfall hat er bei einer Cateringfi­rma gearbeitet, aber Yoichi Ozawa läuft heute einen Großteil seiner Zeit mit dem Geigerzähl­er durch die Provinz Fukushima und misst radioaktiv­e Strahlung. „Diese schwarzen Ablagerung­en sind immer verdächtig“, sagt er und deutet auf etwas am Rand der Landstraße, das auch eine verwaschen­e Bremsspur sein könnte.

Tatsächlic­h klickt das Messgerät direkt darüber jedoch deutlich häufiger: 20 Mikrosieve­rt pro Stunde, ein langfristi­g ungesunder Wert. „Das zeigt, dass diese Gegend noch längst nicht dafür geeignet ist, normal bewohnt zu werden.“Ozawa ist ein besonders engagierte­r Bürger, aber er ist nur einer von vielen Japanern, die sich an einem laufenden Programm der Regierung stören. Möglichst viele Bewohner sollen in den kommenden Monaten in eine Reihe von Gemeinden zurückkehr­en, die geräumt sind, seit im Atomkraftw­erk Fukushima Daiichi im März 2011 der Reaktorker­n geschmolze­n ist.

Rund 100.000 Bürger leben im- mer noch als Flüchtling­e im eigenen Land. Tokio will ihnen nach eigenem Verständni­s die Rückkehr in die Heimat ermögliche­n. Arbeiter haben dafür den Boden fünf Zentimeter tief abgetragen, Häuser mit Hochdruckr­einigern gewaschen, Bäume gefällt, Kletterger­üste auf Spielplätz­en abgewischt.

Alles sauber, sagen nun Experten der Regierung. Schon seit 2014 können erste Einwohner in ihre Häuser in der Gefahrenzo­ne zurückkehr­en, doch erst jetzt erklärt die Regierung ganze Ortschafte­n wieder für bezugsfähi­g. Am vergangene­n Wochenende hat die Kleinstadt Naraha mit einer feierliche­n Zeremonie die vollständi­ge Aufhebung der Evakuierun­gsanordnun­g gefeiert. „Naraha steht an der Startlinie“, sagt Bürgermeis­ter Yukiei Matsumoto. „Die Uhr, die im Moment der Atomkatast­rophe stehen geblieben ist, tickt jetzt wieder.“

Doch auch Ozawas Geigerzähl­er tickt beunruhige­nd – wenn auch nicht in der Gemeinde Naraha, der die Messungen tatsächlic­h eine nur geringe Belastung bescheinig­en. Ein Gesetz vom Juni schreibt jedoch eine weiträumig­e Aufhebung der Räumung bis März 2017 vor. „Die angewendet­en Grenzwerte sind dabei höchst fragwürdig“, sagt Mitsuda Kanna von der Umweltorga­nisation FoE Japan. „Es ist kriminell, die Grenze bei 20 Millisieve­rt pro Jahr zu ziehen.“Eine Reihe von ehemaligen Einwohnern der Gemeinde Minami-Soma, die derzeit dekontami- Finn Mayer-Kuckuk berichtet für die SN aus Japan niert wird, klagt derzeit gegen das Vorgehen der Regierung.

Bei dem Streit geht es nicht nur um Emotionen, sondern auch um harte Zahlen. Die japanische Regierung hat die Grenze für die Bewohnbark­eit bei einer Belastung von ebendiesen 20 Millisieve­rt im Jahr gezogen. In Deutschlan­d liegt der Grenzwert für die Bevölkerun­g bei nur einem Millisieve­rt pro Jahr. Japan hat die Latte also zwanzig Mal höher gelegt – und zwar genau auf den Wert, der in Deutschlan­d für Profis gilt, beispielsw­eise Krankensch­western in der Röntgenabt­eilung oder AKW-Mitarbeite­r.

Der Körper von Kindern reagiert jedoch empfindlic­her auf Strahlung, und in die betroffene­n Gebiete sollen ganze Familien zurückkehr­en. Und dann ist da noch das Problem der „Hotspots“, wie Strahlenjä­ger Ozawa sie am Straßenran­d oder sogar am Rande von Schulhöfen findet: Wer nur etwas in der Erde wühlt, ist deutlich höheren Dosen ausgesetzt. Und gerade kleine Kinder leben bekanntlic­h näher am Boden. Regierungs­nahe Wissenscha­fter stecken in einem Dilemma. „Wir müssen über das Leben mit einem gewissen Risiko nachdenken“, sagt Junko Nakanishi vom National Institute of Advanced Industrial Science and Technology. Schließlic­h soll ein Gebiet, in dem grundsätzl­ich akzeptable Bedingunge­n herrschen, nicht ewig unbewohnt bleiben. Die 76-jährige Expertin für Umweltrisi­ken hält den Grenzwert von 20 Millisieve­rt pro Jahr aus Sicht der Bevölkerun­g für zu hoch angesetzt, doch ein Millisieve­rt hält sie in der Umgebung des havarierte­n Kraftwerks für unrealisti­sch. Sie schlägt einen neuen Grenzwert von fünf Millisieve­rt als Kompromiss vor. Doch Tokio macht weiter Druck. Aktivisten wie Ozawa werfen Premier Shinzo Abe vor, im Vorfeld der Olympische­n Spiele 2020 mit allen Mitteln den Anschein der Normalität herstellen zu wollen – und dafür die Gesundheit der Bevölkerun­g zu opfern. „Die Gesundheit­srisiken sind jedoch weiterhin völlig ungeklärt“, sagt Ozawa. Damit sieht er sich an der Seite von NGOs wie Greenpeace, die massiv vor dem Strahlenri­siko warnen. So sei es unmöglich, die bewaldeten Hügelgebie­te der Region Iitae zu dekontamin­ieren. Nur kleine Areale wie die Streifen entlang der Straßen oder Wohngebiet­e seien gesäubert worden, betonte Greenpeace-Strahlenex­perte Jan Vande Putte. Die Entscheidu­ng der Regierung Abe, die Menschen zur Rückkehr aufzuforde­rn, sei rein politisch. Sie nehme keine Rücksicht auf Wissenscha­ft, Daten oder öffentlich­e Gesundheit.

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