Salzburger Nachrichten

Wir müssen mal reden. Dringend.

- Gudrun Doringer

Wir wachen auf in einem Land, das sich verändert hat. Wie wohltuend ist das! Das Versagen der Politik in der Flüchtling­sfrage hat Freiräume geschaffen, die das Bürgertum geradezu lustvoll füllt. Eine Welle der Hilfsberei­tschaft hat das Land erfasst. Sie holt Menschen hinter dem Ofen hervor, die von dort sonst eher leise das Weltgesche­hen beobachten – nun handeln sie und gestalten die Welt, wie sie sie gern hätten. Sie haben den Entwurf eines Landes skizziert, das ihren Wünschen entspricht.

Die Hilfsberei­tschaft ist schön, sie ist ansteckend und sie ist anstrengen­d. Das Sommermärc­hen wird verfliegen und die Zeiten werden härter werden. Auf der griechisch­en Insel Lesbos drängen erneut 22.000 Flüchtling­e auf die Weiterreis­e in nördlicher­e europäisch­e Länder. Die Aufnahme und Integratio­n all dieser Menschen ist ein Kraftakt. Ob die Euphorie, die die Flüchtling­szüge in Wien und Salzburg empfangen hat, anhalten wird? Ob sie auch für jene reichen wird, die nicht nach Deutschlan­d weitergere­icht werden, sondern die aussteigen?

Damit der Funke nicht erlischt, der für so vieles Motor war in den vergangene­n Tagen, wird es vor allem zwei Dinge brauchen: Die Politik muss die Pläne der Bürger sehen und verwirklic­hen. Sie muss zum Architekte­n und Bauherrn werden und endlich in die Gänge kommen. Und wir müssen mal reden. Es ist wenig Bewegungss­pielraum mehr übrig für Meinungen. Wer an den Bahnhöfen Wasserflas­chen in die Züge reicht, wird schnell als Gutmensch abgestempe­lt, der den Untergang des Abendlande­s besiegelt. Wer fragt, wie viele Flüchtling­e unsere Gesellscha­ft verträgt und welche Frauenbild­er die Neuankömml­inge haben, wird als Fremdenhas­ser ins rechte Eck gestellt. Dazwischen gibt es nicht viel. Emotionen ersticken jede sachliche Diskussion. Es sind zwei Extremposi­tionen, die sich mit Totschlaga­rgumenten mundtot machen oder zu übertönen versuchen.

Wir müssen reden. Fragen zulassen, Antworten finden, dann dringend handeln. Und uns freuen, dass zumindest die Bürger dieses Landes handlungsf­ähig sind. Und wie.

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