„Nun setze ich meinen Kopf ein“
Die junge Inderin Sita wurde entführt, vergewaltigt und vor einen Zug geworfen. Die Familien der Täter bieten ihr Geld an, damit sie ihre Anzeige fallen lässt.
Im Leben Sheetals, der jungen Inderin, über die wir in Abständen seit dem Frühjahr 2014 berichten und die solidarische Unterstützung aus unserer Leserschaft erhält, gibt es ein paar neue, bemerkenswerte Kapitel: Sie heißt in Wirklichkeit Sita und ist gerade von der 8. in die 9. Klasse versetzt worden.
Die inzwischen 20-Jährige war im September vor zwei Jahren im indischen Unionsstaat Rajasthan Opfer eines Verbrechens geworden. Drei Männer hatten den damaligen Teenager entführt, geknebelt, gefesselt und dann vergewaltigt. Als Sita, wie ich sie von jetzt an bei ihrem richtigen Namen nenne, das Ansinnen ablehnte, über die Tat zu schweigen, warfen sie das Opfer vor einen herannahenden Schnellzug. Die Absicht war, das Mädchen zu töten. Es überlebte, doch ihm wurden beide Beine oberhalb der Knie abgetrennt. Eine Katastrophe nicht Hilmar König berichtet für die SN aus Indien nur für Sita persönlich, sondern für die ganze Familie, denn als Bauarbeiterin verdiente sie bis dahin als Einzige den Lebensunterhalt für alle.
Sita erstattete Anzeige. Zwei der Täter sitzen seitdem in Untersuchungshaft, einer ist gegen Kaution auf freiem Fuß. Im Gerichtsprozess geht nichts voran, weil die aus ärmlichsten Verhältnissen kommende junge Frau nicht über das Geld verfügt, die Beamten zu zügigerem Handeln zu veranlassen. Mit der Unterschriftenkampagne „Support Sita from Chittorgarh“versuchen Menschenrechtler seit ein paar Wochen, Druck auf die Justiz auszuüben, damit das Verfahren endlich in Gang kommt. Zugleich soll damit erreicht werden, dass Sita endlich die volle, ihr gesetzlich zustehende staatliche Entschädigung für Behinderte erhält. Ob diese Initiative zu einem Erfolg führen wird, bleibt abzuwarten. Unabhängig davon kämpft Sita unbeirrt weiter um Ge- rechtigkeit. Mehrmals kamen aus Kreisen der Familien der Täter hohe finanzielle Angebote, damit sie ihre Anzeigen zurücknimmt. „Das kommt nicht infrage“, lautet Sitas Antwort. „ Sie haben mich geschändet und verstümmelt. Für den Rest meines Lebens bin ich als Opfer von Gewalt gezeichnet. Es ist mir peinlich, wenn Passanten mich angaffen und vielleicht noch wissen wollen, was mir passiert ist.“
Wie kam es nun zu ihrem „Namenswechsel“? Das indische Gesetz verbietet es, die Identität einer Vergewaltigten preiszugeben. Daran habe ich mich als Korrespondent gehalten und in meinen Berichten den fiktiven weiblichen Vornamen Sheetal verwendet. Jetzt aber trat Sita im Rahmen einer Sendung über Frauen, die ihr Schicksal meistern, in einer 45-minütigen Dokumentation des staatlichen indischen Fernsehens Doordarshan auf. Und da wurde ihre Identität enthüllt. Somit ist dieses Tabu gebrochen und ich folge ab jetzt diesem Beispiel. Sita meisterte ihren TVAuftritt übrigens bravourös: Sie zeigte keinerlei Nervosität und berichtete vor Millionen Zuschauern souverän darüber, was ihr widerfahren ist und wie sie vorhat, ihre Zukunft zu gestalten. All das Übel in ihrem Leben, die Kinderarbeit, die Heirat als Elfjährige, vom Gatten verstoßen zu werden, Opfer eines Sexualverbrechens zu werden, der Mordanschlag, die Bestechungsversuche, hat sie offenbar gestählt. Sie berichtete tapfer und manchmal unter Tränen. Beispielsweise als sie von ihrem Lebensretter erzählte. Der fand sie in jener Septembernacht anderthalb Stunden nach dem Verbrechen, um Hilfe wimmernd, ohne Beine zwischen den Gleisen liegend.
Sita befindet sich in der Obhut einer Nichtregierungsorganisation, die auch ihren Schulbesuch organisiert. Denn Bildung gehört wesentlich zu ihren Zukunftsplänen. Über die 5. Klasse war sie in ihrem jungen, harten Leben bislang nicht hinausgekommen. Jetzt als Schwerbehinderte kann sie anstrengende körperliche Arbeit, an die sie ge-