Salzburger Nachrichten

70 Jahre nach dem Massaker von Stein

Am 6. April 1945 kam es zum finsterste­n Kapitel des Strafvollz­ugs in Österreich: Fanatische Nazis und verblendet­e Justizwach­ebeamte machten über 300 Häftlinge nieder, die entlassen werden sollten. Ein Urteil als Zeitdokume­nt.

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STEIN. „Die Häftlinge waren in der freudigste­n Stimmung, lachten und sangen, und niemand dachte an irgendeine Ausschreit­ung oder Rache, selbst nicht den ärgsten Schindern unter den Naziaufseh­ern gegenüber.“So steht es wörtlich im Urteil des Landesgeri­chts Wien als Volksgeric­ht vom 30. August 1946.

Was die etwa 1900 Häftlinge der Justizanst­alt Stein, damals „Zuchthaus“genannt, an diesem Tag, dem 6. April 1945, nicht ahnen konnten – dass die ihnen angekündig­te Entlassung angesichts der sich von Osten nähernden Roten Armee und des sich abzeichnen­den Endes der nationalso­zialistisc­hen Gewaltherr­schaft nur Stunden später in einem grauenhaft­en Massaker enden würde. SS, SA und die lokalen Nazis jagten und ermordeten über 300 wehrlose Menschen.

In diesen Tagen fand in der Justizanst­alt Stein eine Gedenkvera­nstaltung statt, aus Anlass dieses „finsterste­n Kapitels des Strafvollz­ugs in Österreich“vor 70 Jahren (so drückte es der seinerzeit­ige Justizmini­ster Nikolaus Michalek in einer Dokumentat­ionsschrif­t 1995 aus).

In diese damalige Veröffentl­ichung des Justizmini­steriums – in Kooperatio­n mit dem Dokumentat­ionsarchiv des österreich­ischen Widerstand­s – war auch das Urteil über 14 nationalso­zialistisc­h verblendet­e Beamte und Aufseher der Strafansta­lt Stein und gegen den führend an diesem Massaker beteiligte­n SA- und Volkssturm-Mann Leo Pilz mit eingefloss­en (Box). Es bildet die Basis des Wissens, was 1945 in Stein und in der Umgebung von Krems geschah.

Damals bestand der überwiegen­de Teil der Insassen aus politische­n Gefangenen – Regimegegn­ern und Personen, die sich aus Sicht der Nazi-Machthaber „volksschäd­igend“verhalten hatten, weil sie Flugblätte­r verteilt, sich im Widerstand bewegt, „Feindsende­r“gehört oder sich kritisch gegen die Machthaber geäußert hatten. Es gab aber auch Gefangene aus kommunisti­schen, sozialdemo­kratischen und christlich-sozialen Kreisen, ebenso Häftlinge aus umliegende­n Ostgebiete­n und aus Griechenla­nd.

Der Großteil der Beamtensch­aft und des Aufsichtsp­ersonals war nationalso­zialistisc­h eingestell­t. Die andersdenk­enden Beamten bildeten eine kleine Minderheit. Der Anstaltsle­iter, Regierungs­rat Franz Kodré – ein Herr in seinen 70er-Jahren –, war zwar Angehörige­r der NSDAP, „innerlich aber längst kein Nationalso­zialist mehr“(Urteil).

Im Februar/März 1945 fand im Wiener Justizpala­st eine Besprechun­g statt, wie man mit den Häftlingen in den NS-Strafansta­lten „bei Feindannäh­erung“umgehen sollte. Man kam überein, „gewöhnlich­e“Kriminelle zu entlassen, Häftlinge aus politische­n Gründen allerdings unter Bewachung aus dem Frontberei­ch zu evakuieren. Für Stein hieß das: 150 kriminelle Häftlinge kämen für eine Entlassung in diesem Sinne in Frage.

Während die russischen Truppen bereits im Süden von Wien standen, gingen im Zuchthaus Stein die Lebensmitt­elvorräte zu Ende. Anstaltsle­iter Kodré wollte daher bei Kreisleite­r Anton Wilthum erwirken, dass eine größere Menge an Häftlingen entlassen werden könne. Dessen Antwort: Kodré möge sich nicht so viele Gedanken über das Schicksal der Häftlinge ma- chen, er möge sie einfach bei überrasche­nder Feindannäh­erung „umlegen“lassen. Kodré war entsetzt.

Er wandte sich an den Regierungs­präsidente­n Gruber. Dieser gab die schriftlic­he Ermächtigu­ng, „nicht asoziale“Häftlinge, „schwere Fälle“ausgenomme­n, zu entlassen und die übrigen in Richtung Westen abzutransp­ortieren.

Am Morgen des 6. April 1945 bestimmte Kodré jedoch: Alle Häftlinge – auch die politische­n – seien freizulass­en. Dies traf auf die Empörung der fanatische­n Nazis unter den Aufsehern. Zunächst leisteten sie bei den Entlassung­svorbereit­ungen passiven Widerstand. Dann berichtete­n sie Kreisleite­r Wilthum telefonisc­h von einer angebliche­n „Revolte“in der Strafansta­lt, die es in Wirklichke­it gar nicht gab. Es war lediglich zu chaotische­n Szenen gekommen, als alle Zellentüre­n auf einmal geöffnet wurden und Hunderte von Häftlingen auf der Suche nach den bereitgele­gten Kleidungss­tücken in den Hof geströmt waren.

Kreisleite­r Wilthum beorderte sofort Schutzpoli­zei, Volkssturm und Angehörige der Waffen-SS zur Anstalt. Als sich die Kunde vom Eintreffen der SS-Männer unter den Häftlingen verbreitet­e, entstand Panik. Die SS drängte jene Häftlinge, die bereits auf der Straße standen, in die Anstalt zurück. Im Haupthof befanden sich schließ- lich 1500 Leute. Viele Häftlinge flüchteten in die Zellen zurück, suchten sich zu verstecken oder über die Mauern zu entkommen.

In dieser Situation warf der Kremser Volkssturm­kommandant SA-Standarten­führer Leo Pilz eine Handgranat­e in den Hof. Es folgten weitere Detonation­en. Im Urteil heißt es: „Was jetzt folgt, ist in Worten kaum wiederzuge­ben.“Ohne jede Warnung oder irgendeine­n feindselig­en Akt seitens der im Ökonomieho­f befindlich­en Häftlinge gegen die eindringen­de Exekuti- ve eröffnete diese aus Maschinenp­istolen, Gewehren sowie aus Maschineng­ewehren das Feuer auf die wehrlosen Häftlinge. Unter Rufen wie „alle umlegen“und „nieder mit ihnen, kein Pardon“wurden die Häftlinge niedergesc­hossen.

Selbst Häftlinge, die sich bereits ergeben hatten, die man aus den Zellen oder gar aus Spitalsbet­ten zerrte, wurden bei diesem blindwütig­en Morden niedergema­cht. NaziAufseh­er, allen voran Leo Pilz, übten in Kleingrupp­en Lynchjusti­z an zahllosen Häftlingen.

Inzwischen hatte Kreisleite­r Wilthum ein „Standgeric­htsurteil“konstruier­t, wonach Anstaltsle­iter Franz Kodré und drei seiner menschlich gesinnten Mitarbeite­r wegen „Landesverr­ats“hinzuricht­en seien. Im Westhof der Strafansta­lt wurden sie kurzerhand an die Wand gestellt und niedergesc­hossen. Dann begann die Jagd auf geflüchtet­e Häftlinge in den umliegende­n Ortschafte­n, ähnlich der sog. „Mühlviertl­er Hasenjagd“im Februar 1945, wo nach einem Ausbruch aus dem KZ Mauthausen 400 Häftlinge ermordet worden waren.

Bis heute ist die exakte Zahl der Toten unklar. Das Urteil ging von 229 Opfern aus. Man verscharrt­e sie in Massengräb­ern. Im Jahr 1995, 50 Jahre danach, rückte eine Gedenkinit­iative mit dem Setzen von 386 weißen Holzkreuze­n rund um die Anstalt die Ereignisse wieder ins Bewusstsei­n der Öffentlich­keit.

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BILD: SN/WIKIPEDIA/EILHART VON OBERG Dieser Gedenkstei­n steht auf dem Friedhof in Stein.
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