Schulpflicht so lang, bis man lesen kann
Junge Menschen sollen erst dann das Schulsystem verlassen, wenn sie die Kulturtechniken beherrschen. Auch wenn das Jahre dauert.
WIEN. Während sich die Politik in Kompetenzstreitigkeiten zwischen Bundes- und Landeslehrern verzettelt, machte die von der Bildungsministerin eingesetzte Expertengruppe einen wesentlich weiter reichenden Vorschlag. Demzufolge solle die starre neunjährige Schulpflicht aufgegeben werden. Stattdessen solle eine „Bildungsgarantie“eingeführt werden, die erst mit dem 18. Lebensjahr erlischt. Das bedeutet: Junge Menschen sollen erst dann das Schulsystem verlassen, wenn sie „die entsprechenden Kompetenzen erworben“haben. Der „pädagogische Fokus“solle also „nicht mehr auf den zu absolvierenden Schuljahren“liegen, sondern „auf dem Wissens- und Kompetenzerwerb“, empfehlen die Experten. Diese Empfehlung wird durch internationale Studien untermauert. Wie das „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“erhoben hat, muss hierzulande 17 Prozent der 16- bis 65-Jährigen eine nur „geringe Lesekompetenz“bescheinigt werden.
Wie weit die Vorschläge der Ex- perten umgesetzt werden, steht in den Sternen. Der Bericht wurde bereits an die koalitionäre Arbeitsgruppe für die Bildungsreform übergeben. Diese will ihn nun in aller Ruhe durcharbeiten. Trotz des schlechten Zeugnisses, das die Neue Mittelschule bei einer Evaluierung erhalten hat, halten SPÖ und ÖVP an dem Schulmodell fest: Jetzt alles rückgängig zu machen wäre, als würde man eine „Operation am offenen Herzen stoppen“, sagte ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer.
WIEN. Das Image der Neuen Mittelschulen (NMS) ist nicht das beste. Das schlechte Abschneiden bei der jüngsten Evaluierung, die am Dienstag publik wurde, bedeutet einen weiteren Rückschlag. „Für uns ist das eine Ohrfeige“, sagt Direktor Christian Leitner von der Neuen Mittelschule Henndorf.
Wie es dazu kam, steht für den erfahrenen Pädagogen fest. Die Politik habe die NMS voreilig als Regelschule eingeführt. „Es braucht aber mindestens zehn bis 15 Jahre, um dieses komplexe Konzept umzusetzen.“Hätte man die Schulen über den Schulversuch länger arbeiten lassen, „wäre das anders ausgegangen“.
Leitner, dessen Schule als eine der ersten am Schulversuch Neue Mittelschule teilnahm, ist als beratender Experte an vielen Neuen Mittelschulen unterwegs. Sein Resümee: „Viele Schulen fühlen sich zwangsverpflichtet. In vielen Schulen sind die Widerstände in der Lehrerschaft extrem hoch.“Dort fehle dann oft die Bereitschaft, sich für die Sache ins Zeug zu legen. Das beginne schon bei der Unterrichtsplanung. „Das machen viele Lehrer noch nicht in der nötigen Qualität.“Auch bei der Weiterbildung sei man im Rückstand. „Die Lehrenden an den Pädagogischen Hochschulen sitzen erst auf der Schulbank und lernen, was sie den Studierenden für die NMS beibringen müssen. Die sind komplett im Verzug.“
Wie berichtet, sind die Leistungen der Schüler in der Neuen Mittelschule nicht besser als in der Hauptschule, teils lagen sie sogar darunter. Grundsätzlich bestätigte der Evaluierungsbericht einmal mehr: Wo Lehrer engagiert sind, erbrachten die Schüler bessere Leistungen. Wenig Auswirkungen hatte die neue Schulform auch auf die Chancengleichheit für Kinder, de- ren Eltern sie nicht fördern oder fördern können – dabei war Bildungsgerechtigkeit ein erklärtes Ziel der Reform. Einzig bei der Atmosphäre in der Schule stellen die Studienautoren wahrnehmbare Verbesserungen fest.
Am Mittwoch meldete sich Un- terrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ) zu Wort und verteidigte das rote Prestigeprojekt: „Die Mittelschule ist ein starkes und gutes Projekt. Die deutliche Verbesserung des Schulklimas und der Schulkultur zeigen den richtigen Weg.“Von Konsequenzen war keine Rede. Ähnlich SPÖ-Bildungssprecherin Elisabeth Grossmann: „In Wahrheit sind wir auf dem halben Weg stehen geblieben“, sagte sie. Das Grundproblem der frühen Selektion – also die Trennung der Zehnjährigen nach der Volksschule in Gymnasiasten und Hauptschüler – „wurde nicht gelöst“. Für Grossmann ist der Bericht jedenfalls „ein Auftrag, konsequent weiterzuarbeiten“.
Dass das Gymnasium neben der NMS bestehen bleiben wird, war freilich von Anfang an klar. Die Neue Mittelschule wurde 2008 als Schulversuch eingeführt. Die damalige Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) wollte so der ÖVP eine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen schmackhaft machen. Schon fünf Jahre später wurde die NMS neben dem Gymnasium ins Regelschulwesen übernommen – ohne, wie der Rechnungshof kritisiert, je auf ihre Wirk- samkeit überprüft zu werden. Heute ist ein Großteil der Hauptschulen in NMS umgewandelt, bis 2018 ist der Umbau abgeschlossen. Kosten bisher: rund 300 Mill. Euro.
Der für Bildung zuständige ÖVPStaatssekretär Harald Mahrer betonte, dass man nach der verheerenden Evaluierung „nicht zur Tagesordnung übergehen kann“. Er zieht zwei Schlüsse aus der Studie: Die Schulen bräuchten mehr Autonomie. Und: „Die frühkindliche Förderung muss gestärkt werden.“Es sei falsch zu glauben, dass alles anders würde, wenn man eine Ge- samtschule für die Zehn- bis 14-Jährigen hätte. „Eine Grundvoraussetzung ist, dass die Kleinen gefördert werden, vor allem von drei bis sechs.“Auch im Evaluierungsbericht wird festgehalten, dass die NMS auch insofern nicht mehr Chancengerechtigkeit bringe, weil prägende Einflüsse auf Vorwissen und Lernverhalten bereits stattgefunden hätten. Wichtig sei, dass man nun rasch handle. „Für die Schüler ist es schade um die verlorenen Jahre. Es tut mir leid um die vielen Zukunftsperspektiven, die sich anders hätten entwickeln können“, sagte er.
Auch der Salzburger LH Wilfried Haslauer, der für die ÖVP die Bildungsreform verhandelt, fordert, dass die Schulen endlich mehr Autonomie bekommen. Dies sei der Schlüssel zu einem besseren Unterricht. „Die Qualität und das Engagement der Lehrer ist der Weg zum Erfolg“, sagt er. Die Schulen müssten die Möglichkeit bekommen, eigene Schwerpunkte zu setzen, die Direktoren müssten die Möglichkeit bekommen, ihre Mitarbeiter auszusuchen. Und man müsse endlich begreifen, dass die Schulen nicht alle über einen Kamm geschoren werden könnten. In Ballungszentren gebe es ganz andere Probleme als in den Schulen, die sich in kleineren Gemeinden befänden.
Dass die Neue Mittelschule trotz des allgemeinen Imageverlusts bei den Eltern ankommen kann, zeigt Leitners Schule in Henndorf. In den Musik-Schwerpunktklassen gibt es jedes Jahr weitaus mehr Anmeldungen, als Schüler aufgenommen werden können. Leitners Appell an die Politik: „Lasst uns endlich Zeit, damit die internen Widerstände an den Schulen überwunden werden und wir den neuen Schultyp entwickeln können.“
„NMS voreilig als Regelschule eingeführt.“Christian Leitner, Direktor NMS Henndorf