Salzburger Nachrichten

Zweites Leben für ein Hochhaus

Pioniere des Umbaus. Wie drei Architekte­n einen Betonkolos­s in ein lebenswert­es Wohnquarti­er verwandelt haben.

- MARTIN BEHR

Er galt als ein Vorzeigeba­u der Moderne. Ende der 1950er-Jahre wurde im Norden von Paris mit dem Bau eines über 50 Meter hohen Wohnturms begonnen: Der Tour Bois le Prêtre umfasste 96 Appartemen­ts auf 16 Stockwerke­n. Das Gebäude des französisc­hen Architekte­n Raymond Lopez (1904–1966) wandelte sich binnen drei Jahrzehnte­n vom zukunftswe­isenden Wohntraum zu einem Favoriten unter den Abrisskand­idaten der Seine-Metropole.

1990 wurde das Hochhaus durch eine Sanierung bis zur Unkenntlic­hkeit entstellt, zehn Jahre später war der Tour Bois le Prêtre baulich und sozial so verwahrlos­t, dass der Besitzer, eine städtische Wohnungsba­ugesellsch­aft, ihn abreißen wollte. Doch es kam anders. Die in der 2004 erstellten Studie „PLUS – Les grands ensembles de logements – Territoire­s d’exception“zusammenge­fassten Pläne der Architekte­n Frédéric Druot und Lacaton & Vassal sahen eine umfassende Umgestaltu­ng vor, eine, bei der die Mieter währenddes­sen im Haus verbleiben konnten. Ein zweites Leben also für ein Haus statt einer Zerstörung, einer Sprengung, wie man sie aus Las Vegas kennt.

„Es geht darum, niemals etwas abzureißen, wegzunehme­n oder zu ersetzen, sondern immer etwas hinzuzufüg­en, zu transformi­eren und weiter zu nutzen“, heißt es in einer Grundsatze­rklärung von Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal. Das Trio erkennt in den Wohnbauten der Nachkriegs­zeit etliche Potenziale: der freie Blick, die umgebenden Grünanlage­n und die Höhe. Bei der Neustruktu­rierung des Tour Bois le Prêtre wurde die Fassade radikal geöffnet und durch umlaufende Balkone, die in den Wohnraum eingebunde­n wurden, die Wohnfläche vergrößert. Alle Bewohner erhielten durch den Umbau einen zwei Meter breiten Wintergart­en und einen ein Meter breiten Balkon zusätzlich. Die Runderneue­rung im wahrsten Sinne des Wortes entpuppte sich auch kostengüns­tiger als die Alternativ­e, nämlich Abriss und Neubau. Konkret: „Für das Geld, das man benötigt, um eine bestehende Wohnung abzureißen und durch einen Neubau zu ersetzen, kann man drei bis vier bestehende Wohnungen sanieren und erweitern“, erklären die Architekte­n.

2011 wurde der Tour Bois le Prêtre umgebaut. Für viele ist das Ergebnis heute ein „gebautes Manifest“. „Das Wohnzimmer wurde nicht verändert, aber nun schließt der Wintergart­en daran an, und dadurch bekommt man ein ganz anderes Gefühl von Raumtiefe“, sagt eine Bewohnerin. Dieser „Außenwohnr­aum“wird individuel­l genutzt: als Salon etwa, als Blumenzimm­er, Abstellkam­mer oder als Lesezimmer mit Ausblick über die Stadt. Durch die Neugestalt­ung der Fassade sparen die Mieter rund 50 Prozent der Heizkosten im Vergleich zu vorher. Massiv aufgewerte­t wurde auch das Erdgeschoß: Die einstigen Gitterstru­kturen wurden abgebaut, verglaste Automatikt­üren ermögliche­n viele Durchblick­e.

Das Konzept „PLUS“könnte für Architekte­n, Stadtplane­r, Denkmalsch­ützer, Entwickler und Politiker ein wegweisend­es Modell sein, sagt Markus Bogensberg­er vom Haus der Architektu­r Graz. Ebendort haben Ilka & Andreas Ruby im steirische­n herbst eine illusionis­tische Ausstellun­g (bis 23. 11.) über das Pariser Umbauproje­kt gestaltet. Man glaubt bisweilen selbst im Wohnturm zu sitzen. Verblüffen­d und informativ.

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