Sisyphus ist glücklich
Italienisch für Fortgeschrittene.
Vor 20 Jahren eröffnete
Mario Gamba in München das heute
legendäre Acquarello. Er begründete eine neue, leichtfüßige Art zu kochen und erlaubte sich, seine Arbeit philosophisch zu
betrachten.
Es war einmal vor 30 Jahren, da saß ein junger Mann in einem Architekturbüro in Bergamo. Sein Name war Mario Gamba und er übersetzte tagein, tagaus italienische Fachtexte ins Französische und Spanische. Eines Tages blickte er kurz von seinen Zetteln auf und betrachtete sein Gegenüber. Da saß ein Kollege, etwa 30 Jahre älter als er. Gamba dachte: „Nein. In 30 Jahren will ich nicht mehr auf diesem Platz sitzen.“
Er kündigte und machte sich auf die Reise nach Frankreich, wo ihn der legendäre Sternekoch Alain Chapel in die Geheimnisse französischer Küchenkunst einwies. Gamba lernte schnell. Aber er wusste noch nicht genug. Also ging er noch zu einem weiteren großen Küchenmeister: zum Sternekoch Heinz Winkler. Der wirkte damals in München im Restaurant Tantris recht segensreich für Gourmets. Winkler übertrug ihm dann gar die Aufgabe, in seinem Lokal Tristan auf Mallorca nach dem Rechten zu sehen. „Man lernt nie aus“, seufzte Gamba. Er fühlte sich damals ein wenig wie Sisyphus. Es war kein Ende in Sicht. Also beschloss er zumindest einmal, sein eigener Herr zu werden. Er wurde in München sesshaft. Das war vor 20 Jahren. Um genau zu sein, empfing er am 1. Juni 1994 in einer unscheinbaren Gegend Münchens, in der Mühlbaurstraße 36, seine ersten Gäste. Rasch gingen die Schönen und die Reichen bei ihm ein und aus. Gamba hob trotzdem nie ab. Die von ihm geschaffene Lebenskunst sollte stets erschwinglich bleiben. Reichtum hat für Gamba nur eine Bedeutung: Einen schönen Ort für Genuss zu schaffen. So in etwa liest sich das Märchen von „Mario im Glück“.
Und das Beste daran ist: Es ist wahr. Das 20. Geburtstagsfest des weithin als „bester Italiener Deutschlands“gerühmten Restaurants Acquarello wurde vorige Woche gefeiert. 120 Gratulanten waren da. „Gäste, Freunde, Begleiter“, sagt Gamba zwei Tage später am Mittagstisch. Der Trubel ist vorbei, die Lobgesänge abgeklungen und die mehr als 1200 kunstvoll angerichteten Teller des Geburtstagsmenüs längst abgewaschen. Heute ist Zeit, sich zu erinnern.
Die paar Tage vor der Eröffnung am 1. Juni 1994 waren noch chaotisch. „Da habe ich Kollegen und Freunden meine Speisekarte zur Begutachtung geschickt“, sagt er. Die waren perplex. „Acquarello klingt wie ein italienisches Restaurant“, fiel dem ersten auf. „Freilich“, sagte Gamba. „Warum hast du dann nur französische Gerichte auf der Karte?“Denken Sie sich einen charmanten italienischen Fluch aus: Gamba hatte ihn damals – ein paar Tage vor der Eröffnung – sicher auf den Lippen. „In so einem Fall konnte nur eine helfen“, erinnert er sich. Richtig geraten: Mama. „Sie ist die Dreisterneköchin meines Lebens“, sagt er. Und dass sie ihm natürlich sofort zwei Rezepte diktiert habe: „Einen Rinderschmorbraten, der noch heute mein Lieblingsgericht ist, und Kartoffelgnocchi.“Pasta. Das war’s zunächst einmal. Im Laufe der Jahre erarbeitete sich Gamba einen völlig neuen Stil, den man am besten französisch-italienisch-paradiesisch beschreiben kann. Hier isst man wie Gott in Frankreich oder wie der Papst in Italien. Suchen Sie sich was aus. Denn: Italienische Küche habe es sowieso nie gegeben. „Das begann erst 1954 mit dem Beginn des Fernsehens in Italien. Da brauchte man was zum Vermarkten.“Was Gamba heute auf die Teller bringt? Seinen Rinderschmorbraten mit Barrolosauce und Selleriepüree natürlich. Der macht süchtig. Und erst sein getrüffelter Steinbutt. Dieses Gericht sollte zur Heilung von Depressionen auf Krankenschein erhältlich sein. Wer da nach dem Essen nicht überglücklich ist, der braucht einen Arzt.
Dass seine Gerichte so leichtfüßig daherkommen und seine Kreativität offenbar nie versiegt, verdankt er wohl seiner Arbeitsweise. Gamba ertüftelt seine Gerichte ständig neu. Dann weiht er sein Team in die Abläufe ein und geht wieder raus in den Service, um dort nach dem Rechten zu sehen. Da hat er einen akribischen Blick wie der Fußballtrainer Pep Guardiola. „Wenn ein Gast winken muss, dann hat die Bedienung zuvor was nicht kapiert“, sagt er. „Wir bedienen hier alle aus Leidenschaft. Wir sind aber keine Diener.“Und: „Wir sind auch das Gegenteil von diesen ,Ciao-Bella-Italienern‘. Wir legen unser Wissen zurückhaltend und leise auf den Tisch.“
Was den Beruf des Kochs schön macht? „Er hat mehr Möglichkeiten“, sagt er. „Ein Bildhauer kann vom Stein nur wegnehmen – bis er fertig ist. Ein Maler kann auf seine Leinwand nur dazugeben. Köche können dazugeben und wegnehmen.“Jetzt erinnert er an Albert Camus. Dieser meinte: „Wir müssen uns Sisyphus als glücklichen Mensch vorstellen.“
Wie es ihm gelang, in einer Gegend ohne Laufkundschaft so erfolgreich zu sein? Da lächelt er nur und sagt: „Es gibt keinen schlechten Platz. Ein guter Gastgeber hat einen guten Platz zu schaffen.“Welchen Stellenwert sein Lokal in München heute hat, beschreibt die Anekdote eines Pärchens, das kürzlich bei ihm einkehrte. „Die kamen am Bahnhof an und sagten zum Taxifahrer nur ,Mühlbaurstraße 36‘.“Der Taxifahrer antwortete selig: „Mmmh. Acquarello.“