„Das Schlimmste ist die Verachtung“
Ein Jahr hat Autor Roger Willemsen auf der Tribüne des Bundestags, des deutschen Parlaments, verbracht. Seine Beobachtungen hat er in Buchform niedergeschrieben. Was ihn stört, passiert auch im österreichischen Nationalrat.
In Deutschland wäre es undenkbar, dass er seine szenische Lesung aus seinem neuen Buch „Hohes Haus – ein Jahr im Parlament“im Bundestag abhalten dürfte, sagt RogerWillemsen. In Österreich hingegen hielt Nationalratspräsidentin Doris Bures sogar die Eröffnungsrede zu der Veranstaltung am Mittwochabend. Zuvor sprachen die SN mit dem gefeierten Autor.
SN: Waren Sie jemals zuvor im österreichischen Parlament?
Willemsen: Ich habe einmal ein Jahr in Wien gewohnt, ungefähr 1983 oder 84, als ich für meine Dissertation über RobertMusil recherchiert habe. Da bin ich immer von der Grünentorgasse im neunten Bezirk zur Nationalbibliothek gegangen. Ich bin also oft an diesem Gebäude vorbeigekommen. Aber ich war nie drinnen. Damals hat mich die parlamentarische Politik weniger interessiert als die außerparlamentarische Opposition. Ich wäre damals eher gegen Zwentendorf oder so etwas aufgetreten, aber nicht gerade im Hohen Haus. Ich würde so ein Projekt aber auch nicht in Österreich machen. Ich hatte bereits eine Anfrage aus der Schweiz.
SN: Warum nicht? SN: Haben Sie sich die Parlamentsarbeit so vorgestellt?
SN: Weil ich nicht finde, dass man sich als Ausländer über das Parlament eines anderen Landes kritisch oder lustig äußern sollte. Aber in Deutschland hat es mich interessiert, weil ich nach meinen letzten literarischen Projekten wieder das Land beobachtenwollte. MeineVerleger fragte mich bei einem Mittagessen kurz vor Weihnachten: Wo willst du das denn beobachten? Da habe ich gesagt: Man müsste sich einmal ein Jahr auf die Tribüne des Bundestags setzen. Drei Wochen später saß ich wirklich da oben. Ich habe auf der einen Seite nicht diesen hohen Sachverstand erwartet. Die Parlamentsdebatten sind, was den Inhalt angeht, alle auf einem sehr hohen Niveau. Andererseits hätte ich nicht gedacht, dass die Abgeordneten so nachlässig mit dem umgehen, was sie als hohes Gut unserer Gesellschaft feiern. Dass die Meinungsfreiheit, der Widerspruch zwischen zweien, das Schüren von Konflikten, das Transparentmachen von Entscheidungen so häufig geschändet und so häufig nachlässig behandelt werden.
Österreichische Abgeordnete haben einander schon„Blutsauger“, „Schwein“oder „Arschloch“genannt. Solch derbe Schimpfwörter findet man nicht in Ihrem Buch.
Das stimmt, solche Zwischenrufe gibt es in dieser Drastik im Deutschen Bundestag nicht. Die sind aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist die Ideologie, die Herablassung und Verachtung gegenüber Armut zum Beispiel. Heute steht in der Zeitung, dass jeder sechste Deutsche von Armut bedroht ist. Und dann sagt ein CDUAbgeordneter allen Ernstes, die Armen hätten ja auch das Problem, dass sie Armut zu sehr im materiellen Sinne sähen. Was sollen Familien dazu sagen, die sich mit prekären Arbeitsverhältnissen und kleinen Teilzeitjobs überWasser halten?
SN: Muss sich die Zusammensetzung imParlament ändern?
Ja, das ist das Erste. Es kann nicht sein, dass im Moment Versicherungsbeamte und Juristen dominierend sind im Parlament. Die repräsentieren das Volk nicht. Das Zweite ist, dass der Fraktionszwang aufgehoben werden muss. Wir brauchen mehr Überzeugungstäter im Parlament, Leute, die die Courage haben, sich selbst zu schaden, indem sie für eine bestimmte Sache eintreten. Ich habe den Eindruck gewonnen, der Fraktionszwang wird aggressiver interpretiert denn je.
SN: Das war früher doch auch so. SN: Sollte man imParlament Plenardebatten abschaffen? SN: Was haben Sie als Nächstes vor, ein Jahr imEU-Parlament? SN: Sie haben als TV-Moderator viele Größen dieserWelt interviewt. Welche Frage würden Sie sich selbst stellen?
Ich glaube, es ist kälter geworden. Ich habe einige Hinterbänkler gefunden, die an den Rand der Tränen gebracht wurden, weil sie so sehr für ihre Sache einstanden. Denen glaube ich. Aber das sind alles Leute, ohne große Aussichten im Parlament. Die sind eher von kleineren Parteien. Schauen Sie sich Sigmar Gabriel von der SPD an. Er hat AngelaMerkel vor der Bundestagswahl vorgeworfen, ihren Amtseid durch Tatenlosigkeit zu brechen. Er warf ihr vor, irre zu sein. Und nach der Wahl macht er nunUnterwerfungsgesten Merkel gegenüber. Was soll dieWählerschaft nun glauben? Das wäre fatal, weil wir dann eine Demokratie hätten, die sich noch stärker ins Unsichtbare, in die Hinterzimmer zurückzieht, als sie es heute schon tut. Zu den schlimmsten Sachen gehört für mich, Dinge zu wiederholen. Es kann gut sein, dass ich wieder ein politisches Buch schreibe. Ich habe schon eines im Kopf – etwas, das ich gern lesen würde, aber das noch nicht geschrieben ist. HerrWillemsen, warum so nervös? Ich kann mir viele Dinge nur durch Leidenschaft aneignen. Ich würde fragen, woher dieser Entzündungswille kommt. Die ehrliche Antwort darauf lautet: Ich will es selbst nicht so genau wissen.