Regieren ja. Aber wer? Und wo?
Brauchen wir eigentlich noch eine Bundesregierung? Und den Nationalstaat? Reichen nicht zwei statt fünf Verwaltungsebenen? Gedanken über eine radikale Politikreform.
Politik ist das Treffen allgemein verbindlicher Entscheidungen, um menschliches Zusammenleben zu regeln. Das klingt furchtbar abstrakt und bringt es trotzdem auf den Punkt: Wir brauchen Übereinkommen, um unser Miteinander zu gestalten. Gesetze, Verordnungen & Co. müssen demokratisch zustande kommen, ohne sie würde nicht einmal der Straßenverkehr funktionieren.
Beispielsweise zahlen wir regelgemäß Steuern und Abgaben und nehmen umgekehrt mit diesem Geld bezahlte öffentliche Leistungen in Anspruch. Vom Schulunterricht über das Gesundheitssystem bis zur Energieversorgung. Die Vorstellung, dass diese Dinge anarchisch organisiert sind – so das Gegenkonzept – klingt wenig verlockend.
So weit, so gut. Der Hund liegt dort begraben, wer was und vor allem wo regeln soll, also auf welcher Ebene politisch entschieden wird. In der Gemeinde, im Bundesland, auf Bundesebene oder durch die Europäische Union? Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs über die Ortszusammenlegungen in der Steiermark, Forderungen der Steuerhoheit für die Länder und der Dauerstreit über die Zuständigkeit des Bundes bei Schule und Lehrern haben eine Gemeinsamkeit: Hier gehen die Meinungen offenbar radikal auseinander.
Wo also soll das Entscheidungs- und Regelzentrum angesiedelt sein? Die naheliegende Standardantwort wäre, die politische Macht möglichst nahe bei den betroffenen Menschen zu platzieren. Das entspricht dem Verständnis des Subsidiaritätsprinzips der EU und jenem in der Schweiz. Dort können Gemeinden nicht nur entscheiden, ob etwa ein Jugendzentrum eröffnet wird, sondern auch, wer die Staatsbürgerschaft bekommt. Für deren Erteilung kann jedes eidgenössische Dorf eigene und unterschiedliche Bedingungen stellen. Sogar die Entscheidung durch Volksabstimmungen im Wirtshaus der Gemeinde ist denkbar.
Richtig ist, dass das Image der Politiker auf Gemeindeebene deutlich besser ist als jenes
Die Gemeinde Gramais kann gegen Ebola nicht viel unternehmen
der Regierenden in Wien oder Brüssel. Es wäre demnach populär, wenn viel mehr die Bürgermeister statt den angeblich „Großkopferten“in weiter Entfernung Politik machen. Zugleich sind solche Wünsche oft populistisch und unrealistisch. Was sollen Gemeindepolitiker im Tiroler Gramais mit seinen 47 Einwohnern gegen Ebola, Fukushima und Ozonloch tun? Beschließen die Volksvertreter von 63 Bürgern aus Tschanigraben im Burgenland Maßnahmen gegen Russland oder den „Islamischen Staat“, so bringt das nichts.
Weniger dramatisch ist das Beispiel, wenn Straßen und Kanalisation gebaut und geeignete Anschlüsse an die Nachbargemeinde vergessen werden. Oder sich jede Kleinstsiedlung wider die finanzielle Vernunft sowie ungeachtet des mangelnden Bedarfs Sportplatz und Mehrzweckhalle einbildet. Sogar die Schweizer haben nicht nur beim Staatsbürgerschaftsrecht erkannt, dass in vielen Politikbereichen übergeordnete Grundbedingungen vorzugeben sind.
Weil umgekehrt eine extreme Zentralisierung dazu führt, dass nicht nur geografisch die Entfernung zwischen Politikern und Bürgern zu groß wird, ist ein Mehrebenensystem entstanden. Die Politikwissenschaft meint damit die Beziehungen der EU-Spitzenorgane mit nationalen, regionalen und lokalen Regierungen plus Nichtregierungsorganisationen.
Minister, Landesräte und Bürgermeister sollen nicht nur eine Blackbox darstellen, die europäische Regelungen einfach umsetzt und ansonsten keinen Einfluss auf die Politik hat. Diese Verflechtung der politischen Ebenen ist freilich schrecklich kompliziert, zumal in Österreich auch die Bezirke eine Rolle spielen. Es ergeben sich Vielfachkompetenzen und Verhandlungszwänge zwischen der EU und dem Bund – also von Kommission bzw. Regierung und National- bzw. Bundesrats-, von Regierungsmitgliedern und Spitzenbeamten sowie seitens dieser mit den Landeshauptleuten, welche wiederum die Gemeindechefs ins Boot holen müssen.
Das Ergebnis ist ein kompliziertes Modell mit Langsamkeit und Blockadegefahr, weil alle Akteure de facto Vetomöglichkeiten haben. Historisch war das verständlich, weil nach Erfahrungen in der Nazidiktatur und Nachkriegszeit gigantisches Misstrauen bestand, der jeweils andere wäre nicht einmal Demokrat. Da wurden für die gegenseitige Kontrolle lieber Schleichtempo und faule Kompromisse beim Regieren in Kauf genommen. Heute stellt sich die Frage, ob das zeitgemäß ist.
Eine Antwort könnte sein, die Politik im Mehrebenensystem von vier bis fünf auf zwei oder höchstens drei Ebenen zu reduzieren. Welche das sein sollen, da wird in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung meistens auf Europa geschimpft und die Länder als größte Blockierer dargestellt. Umgekehrt, das Konzept des Nationalstaats komplett zu hinterfragen, das traut sich fast niemand, weil alle Ski- und Fußballfans dagegen sind und es nationalistischen Parteien Aufwind brächte.
Ein Gegenargument ist zugegeben korrekt: Wenn immer mehr auf EU-Ebene entschieden wird, fehlt es ebenda an der demokratischen Legitimation von Entscheidungen. Europäische Wahlen in ihrer jetzigen Form wirken als politische Beteiligung nur sehr indirekt, damit die Bürger ihre Stimme an zentrale Entscheidungsträger übertragen können. Das klappt nicht, solange Parlamentarier der EU bloß national gewählt und die Vertreter im Europäischen Rat und der Kommission bloß um drei Ecken auf den Willen des Volkes zurückgehen.
Neben einer Institutionenreform der EU sollten also auch anderswo Mitspracherechte bestehen. Doch warum brauchen wir dazu eine Bundesregierung und nationalstaatliche Parlamente? Das ist provokant, aber als Mittelweg im Wechselspiel zwischen der Notwendigkeit von übergeordneten Regeln und Bürgernähe könnte man von den Steuern bis zur Bildungspolitik ganz entgegen der aktuellen Machtverteilung EU und Länder damit betrauen.
PS. Bevor nun Landespolitiker über diese Schlussfolgerung allzu sehr jubeln: Es steht nirgendwo geschrieben, dass die Länderebene aus den Bundesländern in ihrer jetzigen Form bestehen bleiben muss. Das Schlagwort eines Europas der Regionen beweist das. Peter Filzmaier ist Professor für Politikwissenschaft an der Donau-Universität Krems und der KarlFranzens-Universität Graz.