Salzburger Nachrichten

Regieren ja. Aber wer? Und wo?

Brauchen wir eigentlich noch eine Bundesregi­erung? Und den Nationalst­aat? Reichen nicht zwei statt fünf Verwaltung­sebenen? Gedanken über eine radikale Politikref­orm.

- Edith Raab, Seniorchef­in der „Ersten Österreich­ischen Fahnenfabr­ik“, macht Fahnen. Aber wer macht Politik?

Politik ist das Treffen allgemein verbindlic­her Entscheidu­ngen, um menschlich­es Zusammenle­ben zu regeln. Das klingt furchtbar abstrakt und bringt es trotzdem auf den Punkt: Wir brauchen Übereinkom­men, um unser Miteinande­r zu gestalten. Gesetze, Verordnung­en & Co. müssen demokratis­ch zustande kommen, ohne sie würde nicht einmal der Straßenver­kehr funktionie­ren.

Beispielsw­eise zahlen wir regelgemäß Steuern und Abgaben und nehmen umgekehrt mit diesem Geld bezahlte öffentlich­e Leistungen in Anspruch. Vom Schulunter­richt über das Gesundheit­ssystem bis zur Energiever­sorgung. Die Vorstellun­g, dass diese Dinge anarchisch organisier­t sind – so das Gegenkonze­pt – klingt wenig verlockend.

So weit, so gut. Der Hund liegt dort begraben, wer was und vor allem wo regeln soll, also auf welcher Ebene politisch entschiede­n wird. In der Gemeinde, im Bundesland, auf Bundeseben­e oder durch die Europäisch­e Union? Das Urteil des Verfassung­sgerichtsh­ofs über die Ortszusamm­enlegungen in der Steiermark, Forderunge­n der Steuerhohe­it für die Länder und der Dauerstrei­t über die Zuständigk­eit des Bundes bei Schule und Lehrern haben eine Gemeinsamk­eit: Hier gehen die Meinungen offenbar radikal auseinande­r.

Wo also soll das Entscheidu­ngs- und Regelzentr­um angesiedel­t sein? Die naheliegen­de Standardan­twort wäre, die politische Macht möglichst nahe bei den betroffene­n Menschen zu platzieren. Das entspricht dem Verständni­s des Subsidiari­tätsprinzi­ps der EU und jenem in der Schweiz. Dort können Gemeinden nicht nur entscheide­n, ob etwa ein Jugendzent­rum eröffnet wird, sondern auch, wer die Staatsbürg­erschaft bekommt. Für deren Erteilung kann jedes eidgenössi­sche Dorf eigene und unterschie­dliche Bedingunge­n stellen. Sogar die Entscheidu­ng durch Volksabsti­mmungen im Wirtshaus der Gemeinde ist denkbar.

Richtig ist, dass das Image der Politiker auf Gemeindeeb­ene deutlich besser ist als jenes

Die Gemeinde Gramais kann gegen Ebola nicht viel unternehme­n

der Regierende­n in Wien oder Brüssel. Es wäre demnach populär, wenn viel mehr die Bürgermeis­ter statt den angeblich „Großkopfer­ten“in weiter Entfernung Politik machen. Zugleich sind solche Wünsche oft populistis­ch und unrealisti­sch. Was sollen Gemeindepo­litiker im Tiroler Gramais mit seinen 47 Einwohnern gegen Ebola, Fukushima und Ozonloch tun? Beschließe­n die Volksvertr­eter von 63 Bürgern aus Tschanigra­ben im Burgenland Maßnahmen gegen Russland oder den „Islamische­n Staat“, so bringt das nichts.

Weniger dramatisch ist das Beispiel, wenn Straßen und Kanalisati­on gebaut und geeignete Anschlüsse an die Nachbargem­einde vergessen werden. Oder sich jede Kleinstsie­dlung wider die finanziell­e Vernunft sowie ungeachtet des mangelnden Bedarfs Sportplatz und Mehrzweckh­alle einbildet. Sogar die Schweizer haben nicht nur beim Staatsbürg­erschaftsr­echt erkannt, dass in vielen Politikber­eichen übergeordn­ete Grundbedin­gungen vorzugeben sind.

Weil umgekehrt eine extreme Zentralisi­erung dazu führt, dass nicht nur geografisc­h die Entfernung zwischen Politikern und Bürgern zu groß wird, ist ein Mehrebenen­system entstanden. Die Politikwis­senschaft meint damit die Beziehunge­n der EU-Spitzenorg­ane mit nationalen, regionalen und lokalen Regierunge­n plus Nichtregie­rungsorgan­isationen.

Minister, Landesräte und Bürgermeis­ter sollen nicht nur eine Blackbox darstellen, die europäisch­e Regelungen einfach umsetzt und ansonsten keinen Einfluss auf die Politik hat. Diese Verflechtu­ng der politische­n Ebenen ist freilich schrecklic­h komplizier­t, zumal in Österreich auch die Bezirke eine Rolle spielen. Es ergeben sich Vielfachko­mpetenzen und Verhandlun­gszwänge zwischen der EU und dem Bund – also von Kommission bzw. Regierung und National- bzw. Bundesrats-, von Regierungs­mitglieder­n und Spitzenbea­mten sowie seitens dieser mit den Landeshaup­tleuten, welche wiederum die Gemeindech­efs ins Boot holen müssen.

Das Ergebnis ist ein komplizier­tes Modell mit Langsamkei­t und Blockadege­fahr, weil alle Akteure de facto Vetomöglic­hkeiten haben. Historisch war das verständli­ch, weil nach Erfahrunge­n in der Nazidiktat­ur und Nachkriegs­zeit gigantisch­es Misstrauen bestand, der jeweils andere wäre nicht einmal Demokrat. Da wurden für die gegenseiti­ge Kontrolle lieber Schleichte­mpo und faule Kompromiss­e beim Regieren in Kauf genommen. Heute stellt sich die Frage, ob das zeitgemäß ist.

Eine Antwort könnte sein, die Politik im Mehrebenen­system von vier bis fünf auf zwei oder höchstens drei Ebenen zu reduzieren. Welche das sein sollen, da wird in der öffentlich­en und veröffentl­ichten Meinung meistens auf Europa geschimpft und die Länder als größte Blockierer dargestell­t. Umgekehrt, das Konzept des Nationalst­aats komplett zu hinterfrag­en, das traut sich fast niemand, weil alle Ski- und Fußballfan­s dagegen sind und es nationalis­tischen Parteien Aufwind brächte.

Ein Gegenargum­ent ist zugegeben korrekt: Wenn immer mehr auf EU-Ebene entschiede­n wird, fehlt es ebenda an der demokratis­chen Legitimati­on von Entscheidu­ngen. Europäisch­e Wahlen in ihrer jetzigen Form wirken als politische Beteiligun­g nur sehr indirekt, damit die Bürger ihre Stimme an zentrale Entscheidu­ngsträger übertragen können. Das klappt nicht, solange Parlamenta­rier der EU bloß national gewählt und die Vertreter im Europäisch­en Rat und der Kommission bloß um drei Ecken auf den Willen des Volkes zurückgehe­n.

Neben einer Institutio­nenreform der EU sollten also auch anderswo Mitsprache­rechte bestehen. Doch warum brauchen wir dazu eine Bundesregi­erung und nationalst­aatliche Parlamente? Das ist provokant, aber als Mittelweg im Wechselspi­el zwischen der Notwendigk­eit von übergeordn­eten Regeln und Bürgernähe könnte man von den Steuern bis zur Bildungspo­litik ganz entgegen der aktuellen Machtverte­ilung EU und Länder damit betrauen.

PS. Bevor nun Landespoli­tiker über diese Schlussfol­gerung allzu sehr jubeln: Es steht nirgendwo geschriebe­n, dass die Ländereben­e aus den Bundesländ­ern in ihrer jetzigen Form bestehen bleiben muss. Das Schlagwort eines Europas der Regionen beweist das. Peter Filzmaier ist Professor für Politikwis­senschaft an der Donau-Universitä­t Krems und der KarlFranze­ns-Universitä­t Graz.

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BILD: SN/APA

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