Alles, was du liest, gehört dir
Lesen bleibt Akt der Selbstermächtigung. In einer Welt, die alles nur mehr in Häppchen serviert, kann das aber recht kompliziert sein.
Für SMS reicht’s immer noch. Aber das reicht nicht. Die Entzifferung einer schriftlichen Kommunikation, die persönliche Befindlichkeiten erledigt, kann nur genügen, wenn die Welt kleinmütig verstanden werden will – oder soll. Das ist aber kein Lesen, auch wenn es in Bus und Bahn immer so aussieht. Lesen ist mehr als bloßer Austausch von Information. Lesen ergibt erst Sinn, wenn Informationen verknüpft werden können, wenn sich ein Netz spannen lässt, an dem man zerren kann.
Diese Verknüpfung der Zusammenhänge fällt immer mehr Menschen immer schwerer.
Leseschwäche von Kindern und Erwachsenen wird politisch billig mit mangelndem Interesse argumentiert. Auch habe das Lesen als Freizeitbeschäftigung halt Konkurrenz bekommen – vom Computer bis zum Outdoor-Abenteuer, heißt es. Das sind Ausreden.
Bildung leidet ganz simpel unter den sozialen Umständen. Es kann niemand lernen oder etwa seine Kinder inder grundlegenden, unverzichtbaren-Kulturtechnik des Lesens und damit im Weiten von Gedankenwelten fördern, wenn ein tagtäglicher Kampf um die Existenz tobt. Dieser Kampf tobt immer öfter. Und dieser Kampf tobt in einer Welt, deren Komplexität den Vifsten einen schweren Kopfmachen kann.
Dass in einem solchen Kampf immer mehr aufgeben, dass die Industrie der Ablenkung übermächtig erfolgreich wird, muss keinen wundern. Die Überreizung schwäche außerdem die Lernfähigkeit, sagen Hirnforscher. Da dreht sich also ein bedrohlicher Kreislauf, der am Ende dazu führt, dass bloß noch zurOberflächlichkeit erzogen wird. Und ebendiese Oberflächlichkeit ist das traurige und in Hinblick auf eine solidarische Gesellschaft auch gefährliche Gegenteil einer Lesewelt. Statt mit ihm die Türen zum Verstehen und zum Verständnis aufzustoßen, wird das Lesebuch zugeklappt. Für ein Weltverständnis, das weiter reichen sollte als bis zum Konsum eines SMS, ist das einDesaster.
Längstwird auch dieWelt jenseits persönlicher Botschaften und Befindlichkeiten als Short Message aufbereitet, häppchenweise werden Ereignisse zerlegt in Newsticker. Miniinformation – oder gleich bloße Propaganda und politisch fein formulierte Ausflüchte schlagen in rasanter Geschwindigkeit um uns ein.
Wer lesen kann, muss nicht gleich alles glauben
Die Halbwertszeit von Nachrichten sinkt dramatisch. News ersetzen Wissen. Info demoliert Aufklärung. Schön bunte Bilder strahlen jede Hintergründigkeit kaputt. Der Überblick geht verloren. Umso problematischer wiegt das, wenn die Fähigkeit zu lesen nachlässt.
In den Tagen der Buchmesse in Frankfurt scheinen solche Probleme auf den ersten Blick vergessen. 200.000 Neuerscheinungen gibt es auf dem deutschsprachigen Buchmarkt pro Jahr. Der Branche geht es halbwegs gut. Es geht in Frankfurt allerdings gar nicht so sehr ums Lesen als einenAkt desGeistes. Es geht um das Buch als Produkt.
Fragen des Inhalts stehen im Schatten der Frage nach Verkaufsmöglichkeiten. Das anonymeDatenmonster Amazon und andere Internet-Allesverkäufer gegen persönliche Betreuung imBuchhandel, technoides E-Book gegen schönen Einband – das sind in Bezug auf die Bedeutung des Lesens als gesellschaftlicher Faktor bloß Nebenschauplätze. Freilich ist es so, dass die schönen neuen Möglichkeiten der Lesestoffverbreitung nicht notwendigerweise schön Anspruchsvolles, sondern viel Dreck nach oben spülen.
Entscheidende Fragen rutschen auf diesem Marktplatz der Bücher aber in den Schatten: Wie lesen wir? Wer liest wie? Welchen Nutzen hat es, mehr zu verstehen als die SMS einer Freundin? Im Getöse, das die Buchbranche in der Diskussion um neue, digitale Geschäftsmodelle führt, rutscht eine grundsätzliche Debatte in den Hintergrund. Es spielt im Prinzip wenig Rolle, wie der Stoff an die Leser kommt. Es kommt vielmehr darauf an, was man mit dem Stoff anzufangen weiß.
Lesen muss so beherrscht werden, dass es der Selbstermächtigung dient. Ganz gleich, ob man in Fantasiewelten abtaucht oder sich in Zeitungen einen kritischen Blick auf die Welt erliest. Lesen muss im Vergleich zu Essen und Trinken nicht als lebenserhaltendes Grundbedürfnis gelten. Doch Lesen ist Grundstoff einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft. Wer liest, muss nicht alles glauben. Wer liest, kann sich wehren – und zwar nicht mit Gewalt, sondern mit Gehirn.