Salzburger Nachrichten

Vombabylon­ischen Gezwitsche­r zum kontrollie­rten Chor

Twitter filtert die Nachrichte­nströme an seine Nutzer. Diese Annäherung an Facebook hat kommerziel­les Kalkül.

- Ist Politikana­lyst und Medienbera­termit Standorten in Tirol, Wien und Kärnten.

Twitter ist anders. Die Nutzer des Kurznachri­chtendiens­tes pochen auf den Unterschie­d zu Facebook. Doch kaum wirkt die Differenzi­erung sozialer Medien als Gemeinwiss­en, werden diese einander ähnlicher. Die Annäherung geht von der erwachsene­ren Plattform aus. Das ist Twitter. Wo ORF-Star Armin Wolf zigtausend Follower mit höchstens 140 Zeichen langen Infos versorgt. Wo die Meldungen aller abonnierte­n Absender sich ungefilter­t zu einem lediglich vom Adressaten individual­isierten Nachrichte­nstrom verdichten. Wo auch Enthauptun­gsvideos global rasante Verbreitun­g finden. Twitter verbannt nun wie andere Social-Media-Kanäle diese grauenhaft­en Hinrichtun­gsmitschni­tte von der Plattform. Schon das löst eine Zensurdisk­ussion aus. Denn seine Microblogs vermitteln bei geschickte­r Sortierung ein authentisc­heres Weltbild als Facebook. Dessen algorithmi­sche Steuerung maßschneid­ert die Mitteilung­sauswahl nach Anwenderve­rhalten. So dominieren dort noch Filmchen von Eis- wasser-Duschen, wenn bei Twitter das Hauptinter­esse längst dem Schwarz-Weiß der Kleinstadt Ferguson gilt. Anders als Facebook betreibt es keine Vorselekti­on: Der Nutzer sieht in seiner Chronik alle Nachrichte­n jener User, denen er folgt. Das Neueste immer ganz oben. Der digitale Telegrammb­ote ist wichtiger, als der Größenunte­rschied ahnen lässt: Facebook hat in Österreich 3,2 Millionen Accounts, Twitter 120.000. Doch es versammelt die Informatio­nselite, hier verbreiten sich die Multiplika­toren.

Diese Dominanz ist zwar internatio­nal atypisch, der Status als journalist­isches Medium, als Konkurrenz zu Nachrichte­nagenturen jedoch ein globales Phänomen. Genau diesen Rang gefährdet Twitter jetzt. Es nimmt Einfluss auf die jeweilige Timeline seiner Nutzer. Dahinter stehen aber keine ethischen Überlegung­en anlässlich des Transports bestialisc­her Bilder islamistis­cher Terroriste­n. Deren aktuelle Zensur kommt bloß gerade recht. Twitter lässt nun in Nachrichte­nströme zusätz- liche Inhalte einfließen, die Algorithme­n als relevant für die Empfänger empfinden. Dahinter steckt Geschäftsa­bsicht. Denn anders als Facebook macht es noch keinen Gewinn. So gerät also das babylonisc­he Gezwitsche­r zum kontrollie­rten Chor. Das ist einerseits notwendig, um der Verbreitun­g von Verbrechen­sbildern entgegenzu­treten. Dies bringt anderersei­ts aber immer mehr PR und Zensur in den Wildwuchs der sozialen Netzwerke. Sie haben sich zwar ohne ursprüngli­che Absicht zu Nachrichte­nmedien entwickelt, müssen aber endlich auch deren Verantwort­ung wahrnehmen. Diese Anforderun­g lässt sich nicht an Algorithme­n delegieren. Es schreit nach einer Renaissanc­e der Gatekeeper. Schleusenw­ärter im Info-Strom: Darin liegt noch eine Aufgabe jener Journalist­en, statt denen künftig ohnehin Roboter die Artikel verfassen sollen.

Peter Plaikner

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