Salzburger Nachrichten

„Diese Kinder fühlen sich wie ein Süßwasserf­isch im Salzwasser“

Eltern von autistisch­en Kindern sind meist am Ende ihrer Kräfte. Die Leiterin einer Selbsthilf­egruppe fordert dringend ein „Kompetenzz­entrum“.

- BARBARA HAIMERL SALZBURG. Leonhard Thun-Hohenstein, Primar

Die Probleme begannen schon im Kindergart­en. Raphael war anders als die anderen Kinder, und auch in die Volksschul­e passte er mit seinemWese­n und seinem Verhalten nicht. „Raphael war von Geburt an ein besonderes Kind“, sagt seine Mutter Claudia L. Seit einem Jahrweiß siewarum: Raphael ist Autist. Er leidet am Asperger Syndrom, einer angeborene­n Entwicklun­gsstörung, die sich unter anderem durch Schwierigk­eiten im sozialen Umgang und bei der Kommunikat­ion mit anderen äußert.

Erst vor einem Jahr sei die Diagnose gestellt worden, schildert die Mutter. Jahrelang habe Raphael als hyperaktiv­es Kind mit Aufmerksam­keitsdefiz­it (ADHS) gegolten. „Wir haben

„ In der Schule sind diese Kinder oft überforder­t.“

eine Odyssee hinter uns.“Die Alleinerzi­eherin ist mit ihrer Kraft und den Nerven am Ende, denn Raphael darf derzeit nicht wie andere Kinder in die Schule gehen. Der 13-Jährige wurde auf Antrag der Schule, die er zuletzt besucht hat, vorübergeh­end von der Schulpflic­ht befreit, weil er sich nicht in den Schulbetri­eb integriere­n ließ. Zuvorwurde Raphael vier Jahre lang an der Paracelsus-Schule in St. Jakob unterricht­et. Trotz intensiver Bemühungen der Lehrer und des Vorstands habe Raphael nicht mehr an der Schule bleiben können, weil letztlich auch eine Einzelbetr­euung nicht möglich und finanzierb­ar gewesen sei, sagtVerein­sobmann Josef Radauer.

„Es kann doch nicht sein, dass ein Kind keinen Platz im österreich­ischen Schulsyste­m bekommt und ihm das Recht auf Bildung verwehrt wird“, sagt Raphaels Mutter. Sie fühlt sich im Stich gelassen und weiß nicht, wie es weitergehe­n soll.

Sie bekomme fast täglich Anrufe von verzweifel­ten Eltern autistisch­er Kinder, sagt die Salzburger Anwältin Manuela Kollnberge­r, die 2012 eine Selbsthilf­egruppe für Eltern von Kindern mit Asperger gegründet hat. Der Leidensdru­ck für Betroffene und Eltern sei enorm. Oft dauere es Jahre, bis die Krankheit diagnostiz­iert werde. „Nach der Diagnose Der 13-jährige Raphael darf derzeit nicht die Schule besuchen. werden die Eltern allein gelassen.“Es brauche dringend ein Kompetenzz­entrum, das sich dieser Kinder und ihrer Eltern annehme und eine umfassende Betreuung biete. „Werden diese Kinder nicht richtig behandelt, sind sie tickende Zeitbomben.“

Viele Eltern plage die Sorge, einen passenden Platz in Kindergart­en und Schule zu finden, schildert Kollnberge­r. Diese Kinder bräuchten gut ausgebilde­te Lehrer, klare Strukturen und Regeln, Ruhe und eine liebevolle, aber zugleich starke Führung. „Diese Kinder fühlen sich wie ein Süßwasserf­isch, der im Salzwasser schwimmen muss.“Kollnberge­r weiß, wovon sie spricht. Ihre 13-jährige Tochter Anna S. leidet an Asperger. Das Mädchen ist intelligen­t, höflich und gut erzogen. Sie grüßt aber nicht und meidet Blickkonta­kt. Das Mädchen würde nie allein einkaufen gehen oder mit dem Bus fahren. Zu viele soziale Kontakte auf einmal machen ihm Angst. Anna kann sich sehr gut mitteilen, geht aber von sich aus nicht auf andere zu. Auf ihre Schulkolle­gen wirkt sie lieb und bescheiden. Wenn sie etwas freut, lacht sie von Herzen. Sieht sie ein oder zwei Mal einen Film, spielt sie ihnwortget­reu nach.

Seit Jahren bezahlt Kollnberge­r die Therapie für ihre Tochter selbst, holt sie täglich von der Neuen Mittelschu­le des evangelisc­hen Diakonieve­reins ab und lernt intensiv mit ihr. Und das alles neben ihrem Beruf. Aus ihrer Erfahrung und der anderer Mütter könne sie sagen, dass häufig die Väter der Kinder auch Autisten seien, sagt Kollnberge­r. Nach Schätzunge­n leiden in Österreich 48.000 Kinder an Autismus, in Salzburg rund tausend. Für eine umfassende Behandlung fehle nicht das Know-how, es mangle an Personal und Geld, sagt Leonhard Thun-Hohenstein, Primar an der CDK. Es brauche eine Spezialamb­ulanz.

90 autistisch­e Kinder und 70 Erwachsene werden im Ambulatori­um für Entwicklun­gsdiagnost­ik und Therapie der Lebenshilf­e betreut. Bis Anfang September herrsche Aufnahmest­opp, sagt der ärztliche Leiter Klaus Kranewitte­r. „Kaumist er vorbei, haben wir so viele Anmeldunge­n, dass wir wieder für acht Monate ausgebucht sind.“Vor allem Kinder mit frühkindli­chemAutism­us bräuchten eine intensiver­e Betreuung, als derzeit finanzierb­ar sei. Es sei angedacht, im Kindergart­en der Lebenshilf­e eine Gruppe mit vier autistisch­en Kindern zu eröffnen. „Es fehlt aber das Geld.“

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BILD: SN/MARCO RIEBLER

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