„Diese Kinder fühlen sich wie ein Süßwasserfisch im Salzwasser“
Eltern von autistischen Kindern sind meist am Ende ihrer Kräfte. Die Leiterin einer Selbsthilfegruppe fordert dringend ein „Kompetenzzentrum“.
Die Probleme begannen schon im Kindergarten. Raphael war anders als die anderen Kinder, und auch in die Volksschule passte er mit seinemWesen und seinem Verhalten nicht. „Raphael war von Geburt an ein besonderes Kind“, sagt seine Mutter Claudia L. Seit einem Jahrweiß siewarum: Raphael ist Autist. Er leidet am Asperger Syndrom, einer angeborenen Entwicklungsstörung, die sich unter anderem durch Schwierigkeiten im sozialen Umgang und bei der Kommunikation mit anderen äußert.
Erst vor einem Jahr sei die Diagnose gestellt worden, schildert die Mutter. Jahrelang habe Raphael als hyperaktives Kind mit Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) gegolten. „Wir haben
„ In der Schule sind diese Kinder oft überfordert.“
eine Odyssee hinter uns.“Die Alleinerzieherin ist mit ihrer Kraft und den Nerven am Ende, denn Raphael darf derzeit nicht wie andere Kinder in die Schule gehen. Der 13-Jährige wurde auf Antrag der Schule, die er zuletzt besucht hat, vorübergehend von der Schulpflicht befreit, weil er sich nicht in den Schulbetrieb integrieren ließ. Zuvorwurde Raphael vier Jahre lang an der Paracelsus-Schule in St. Jakob unterrichtet. Trotz intensiver Bemühungen der Lehrer und des Vorstands habe Raphael nicht mehr an der Schule bleiben können, weil letztlich auch eine Einzelbetreuung nicht möglich und finanzierbar gewesen sei, sagtVereinsobmann Josef Radauer.
„Es kann doch nicht sein, dass ein Kind keinen Platz im österreichischen Schulsystem bekommt und ihm das Recht auf Bildung verwehrt wird“, sagt Raphaels Mutter. Sie fühlt sich im Stich gelassen und weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Sie bekomme fast täglich Anrufe von verzweifelten Eltern autistischer Kinder, sagt die Salzburger Anwältin Manuela Kollnberger, die 2012 eine Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit Asperger gegründet hat. Der Leidensdruck für Betroffene und Eltern sei enorm. Oft dauere es Jahre, bis die Krankheit diagnostiziert werde. „Nach der Diagnose Der 13-jährige Raphael darf derzeit nicht die Schule besuchen. werden die Eltern allein gelassen.“Es brauche dringend ein Kompetenzzentrum, das sich dieser Kinder und ihrer Eltern annehme und eine umfassende Betreuung biete. „Werden diese Kinder nicht richtig behandelt, sind sie tickende Zeitbomben.“
Viele Eltern plage die Sorge, einen passenden Platz in Kindergarten und Schule zu finden, schildert Kollnberger. Diese Kinder bräuchten gut ausgebildete Lehrer, klare Strukturen und Regeln, Ruhe und eine liebevolle, aber zugleich starke Führung. „Diese Kinder fühlen sich wie ein Süßwasserfisch, der im Salzwasser schwimmen muss.“Kollnberger weiß, wovon sie spricht. Ihre 13-jährige Tochter Anna S. leidet an Asperger. Das Mädchen ist intelligent, höflich und gut erzogen. Sie grüßt aber nicht und meidet Blickkontakt. Das Mädchen würde nie allein einkaufen gehen oder mit dem Bus fahren. Zu viele soziale Kontakte auf einmal machen ihm Angst. Anna kann sich sehr gut mitteilen, geht aber von sich aus nicht auf andere zu. Auf ihre Schulkollegen wirkt sie lieb und bescheiden. Wenn sie etwas freut, lacht sie von Herzen. Sieht sie ein oder zwei Mal einen Film, spielt sie ihnwortgetreu nach.
Seit Jahren bezahlt Kollnberger die Therapie für ihre Tochter selbst, holt sie täglich von der Neuen Mittelschule des evangelischen Diakonievereins ab und lernt intensiv mit ihr. Und das alles neben ihrem Beruf. Aus ihrer Erfahrung und der anderer Mütter könne sie sagen, dass häufig die Väter der Kinder auch Autisten seien, sagt Kollnberger. Nach Schätzungen leiden in Österreich 48.000 Kinder an Autismus, in Salzburg rund tausend. Für eine umfassende Behandlung fehle nicht das Know-how, es mangle an Personal und Geld, sagt Leonhard Thun-Hohenstein, Primar an der CDK. Es brauche eine Spezialambulanz.
90 autistische Kinder und 70 Erwachsene werden im Ambulatorium für Entwicklungsdiagnostik und Therapie der Lebenshilfe betreut. Bis Anfang September herrsche Aufnahmestopp, sagt der ärztliche Leiter Klaus Kranewitter. „Kaumist er vorbei, haben wir so viele Anmeldungen, dass wir wieder für acht Monate ausgebucht sind.“Vor allem Kinder mit frühkindlichemAutismus bräuchten eine intensivere Betreuung, als derzeit finanzierbar sei. Es sei angedacht, im Kindergarten der Lebenshilfe eine Gruppe mit vier autistischen Kindern zu eröffnen. „Es fehlt aber das Geld.“