Salzburger Nachrichten

Die Sünden wider das menschlich­e Maß

Es ist, als wär’s ein Stück von heute. Es ist, als hätten der Schriftste­ller George Orwell und der Philosoph Leopold Kohr die private und staatliche Internetsc­hnüffelei vorausgese­hen.

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Leopold Kohr und George Orwell trafen während des Spanischen Bürgerkrie­gs 1937 eine Woche lang jeden Tag in Valencia zusammen. Sie diskutiert­en Szenarien der Zukunft, in der sie Überwachun­gsstaat und Massengese­llschaft heraufdämm­ern sahen. Über dem Hauptplatz von Valencia hing angesichts des Krieges ein Plakat. Die Menschen sollten bedenken, dass „der Feind“nur 150 Kilometer entfernt sei. „Das haben wir kommentier­t“, schrieb Kohr. „Nicht 150 Kilometer ist er entfernt! Er ist schon da, mitten unter uns! Es ist eine andere Art von Feind: Die Kontrolle in der Massengese­llschaft.“

Zehn Jahr später, 1947/48 schrieb George Orwell seinen Roman „1984“. Wieder zehn Jahre danach, 1957, hat Leopold Kohr sein Hauptwerk „The Breakdown of Nations“(Das Ende der Großen) veröffentl­icht. Es hat dann noch mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, bis seine alte Heimat Salzburg auf den gebürtigen Oberndorfe­r Kohr aufmerksam wurde. 1980 hat ihn der Verleger und Kulturmana­ger AlfredWint­er anlässlich der Keltenauss­tellung in Hallein wiederentd­eckt und seinen Gedanken zum Durchbruch verholfen.

Seither ist in Salzburg viel Vorbildlic­hes geschehen, um dem „menschlich­en Maß“im Sinne von Leopold Kohr Gehör zu verschaffe­n. Aber anstatt dass sich die Salzburger Brust vor Stolz schwellen würde über diesen „Sohn der Heimat“, müssen Vereine und Akademien, die sein Erbe pflegen und weiterentw­ickeln, um Anerkennun­g ringen.

Man könnte das als typische Salzburger Kleinkarie­rtheit abtun – wir haben die Touristen, wer braucht schon Leopold Kohr –, wenn es nicht um ein zentrales humanistis­ches Anliegen ginge. Denn kaum einmal war das menschlich­e Maß so gefährdet wie heute. Da ist es schon egal, ob privatwirt­schaftlich­e Megakonzer­ne wie Google laufend Daten von uns sammeln, speichern und auswerten oder ob ein US-Geheimdien­st ganz nebenbei das Handy der deutschen Bundeskanz­lerin abhört.

Größer ist besser, dieser Wahnsinn begleitet uns auf Schritt und Tritt. Größere Datenmenge­n erhöhen angeblich Zukunftsch­ancen und Sicherheit, grö- ßere Krankenhäu­ser sind angeblich besser für die Gesundheit, größere Wirtschaft­sräume bringen angeblich mehrWohlst­and, größere Olympische Spiele undWeltmei­sterschaft­en machen angeblich glückliche­r.

Wenn dann irgendwann etwas tatsächlic­h zu groß wird – man nennt das neudeutsch „to big to fail“–, dann hat die Politik nicht mehr die Courage, solche Ungetüme auf ein erträglich­es Maß zu stutzen. Wir haben das in der Bankenkris­e erlebt. Wir zahlen alle bis heute dafür. Und wir müssen mit ansehen, wie wenig von den umfassende­n Reformvers­prechen, die unmittelba­r nach dem Crash 2008/09 gegeben wurden, bis heute umgesetzt worden ist.

Der Siegeszug eines entfesselt­en Kapitalism­us hat genau jenes menschlich­e Maß vernichtet, das Leopold Kohr so anschaulic­h eingemahnt hat. Salzburg kann und muss seinen Beitrag dazu leisten, dass „Small is beautiful“zu einer Art geistigen Weltkultur­erbes wird.

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