Orbáns neue Gutsherren
Landgrabbing. In Ungarn werden kleine Landwirte zugunsten neuer Gutsherren mit Fidesz-parteibuch enteignet. Etwa in Felcsút, wo Premier Viktor Orbán aufgewachsen ist.
BUDAPEST (SN, n-ost). Andras Varadi sitzt in seiner Küche, die Schränke und Geräte sind nicht mehr so neu, eine Tür hängt ein bisschen schief. Auf dem Herd kocht starker Kaffee nach ungarischer Art. Der 56-jährige Landwirt wohnt hier seit seiner Geburt, seine Lebensgefährtin und er kümmern sich zusammen um ihre vier Kinder. Varadi besitzt rund 100 Schafe, „nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel“, wie er sagt. „Mit der Schafzucht lässt sich normalerweise etwas verdienen, immer wieder gibt es Ausschreibungen von EU-Landwirtschaftsgeldern und wir bekommen auch Pauschalsummen“, erklärt der Bauer.
Kleine Landwirte wie Varadi sollen außerdem vom Staat unterstützt werden. Die Regierung in Budapest hat vor einem Jahr ein umfassendes Hilfsprogramm zur gezielten Unterstützung kleiner Landwirte eingeführt hat. So sollen kleine und mittelständische Agrarbetriebe mit günstigen Krediten finanziert, Hersteller traditionell ungarischer Produkte gefördert und Kleinbauern vor großen ausländischen Agrarkonzernen geschützt werden. So weit die Theorie. Die Realität sieht anders aus: Andras Varadi bekommt seit drei Jahren weder EU-Gelder noch günstige Kredite. Jeden Tag kämpft er ums Überleben. Beamte sämtlicher Kontrollbehörden melden sich bei ihm im Wochentakt und wollen ein ums andere Mal alles gründlich überprüfen. Der Grund seines Unglücks: Er wohnt in Felcsút, jenem kleinen Ort, in dem Viktor Orbán aufgewachsen ist.
Die Familie und die alten Freunde des Ministerpräsidenten betreiben hier Landwirtschaftsund Baubetriebe im großem Stil. Rund um Varadis Grundstück gehört alles zum Unternehmen Búzakalász 66, das der Bürgermeister des Ortes, Lörinc Meszaros, führt. Jeder kennt jeden in dem 1800-Seelen-Dorf und den Nachbarorten Alcsút und Alcsútdoboz.
Meszaros, ein persönlicher Freund der Familie Orbán und langjähriges Fidesz-Mitglied, ist nicht nur Bürgermeister. Er ist gleichzeitig der Chef der FerencPuskas-Fußballakademie, jener staatlich finanzierten Sporteinrichtung, die der heutige Premier 2007 gegründet und nach dem legendären ungarischen Fußballspieler benannt hat. Außerdem ist der Bürgermeister auch der größte Unternehmer der Gegend. Ihm und seiner Familie gehören die Baufirma „Meszaros & Meszaros“ sowie Agrarbetriebe, die diverse Ländereien der Familie Orbán verwalten.
„Wenn es Ausschreibungen für Landwirtschaft oder regionale Entwicklung gibt, werden sie vom Rathaus vergeben. Es ist allen Beteiligten klar, dass jemand wie Andras Varadi niemals gewinnen wird“, erklärt Krisztina Ferenczi, eine investigative Journalistin, die in den letzten Jahren mit einer Artikelserie über Felcsút mehrere Gesetzesverstöße und Affären aufgedeckt hat. „Die Gewinner der Ausschreibungen waren mal die Firmen des Bürgermeisters, mal Orbáns Vater Gyözö, mal Orbáns Frau oder die Juristin Aniko Levai“, stellt Ferenczi fest.
Lörinc Meszaros führt seit zwei Jahren eine regelrechte Einschüchterungskampagne gegen Varadi, dessen Grundstück er kaufen will. „Mehrmals hat mir der Bürgermeister gedroht. Seine Leute kommen ständig vorbei und fragen mich, wann ich verkaufe. Am Anfang waren wir verzweifelt, wir wollen auf keinen Fall unser Heimatdorf verlassen und alles billig verkaufen“, erzählt Varadi. Später fand er jedoch mithilfe der Journalistin Ferenczi einen guten Anwalt, der ihn unterstützt und ihm jetzt ehrenamtlich Rechtsschutz bietet.
Der Fall Felcsút ist brisant, aber längst nicht der einzige seiner Art. Immer wieder beschweren sich westeuropäische Unternehmer und vermehrt auch einfache ungarische Bauern, dass sie gegenüber den Gutsherren mit Fidesz-Parteibuch benachteiligt oder sogar enteignet werden. „In der Praxis bleibt die Rede von der Unterstützung der Kleinbauern Augenwischerei“, erklärt Zsolt Szegfalvi, Geschäftsführer von Greenpeace Hungary. „Fast 90 Prozent der staatlichen Grundstücke werden an große Agrarunternehmen verpachtet. Diese Unternehmen, die in der Regel gute Beziehungen zur Regierung pflegen, kommen damit auch in den Genuss der meisten Fördergelder. Oft werden die Kleinbauern verdrängt oder vertrieben. Grüne, lokale, soziale und nachhaltige Landwirtschaft sieht anders aus.“