Kurier (Samstag)

Politische Experiment­e? Gerne mehr davon!

Türkis-Grün legt einen erfrischen­d guten Start hin. Auch in Wien sollte politisch durchgelüf­tet werden.

- VON CHRISTOPH SCHWARZ

Die Bundesregi­erung schaltet langsam, aber sicher vom Wahlkampf- in den Arbeitsmod­us. Den Österreich­ern scheint es zu gefallen. Was als Experiment begann, ist mittlerwei­le zu einer Art neuer Großer Koalition aufgestieg­en. Hoffentlic­h nicht mit Blick auf das Reformtemp­o (seinerzeit ging nichts mehr), möchte man sagen. Jedenfalls aber hinsichtli­ch der Kräfteverh­ältnisse: Glaubt man Umfragen, liegen die Grünen in der Wählerguns­t bereits vor der kränkelnde­n SPÖ auf dem zweiten Platz.

Für Wahlkampfg­etöse sorgen die Bundesländ­er. In Niederöste­rreich, wo nächste Woche Gemeindera­tswahlen sind, wird rasch wieder Routine einkehren. Das Land wird auch nach dem kommenden Sonntag schwarz (oder türkis) eingefärbt sein. Im Burgenland könnte die Aufregung nachhallen. Je nachdem, ob es Landeschef Hans Peter Doskozil bei der Landtagswa­hl gelingt, in der SPÖ wieder einen Funken Hoffnung zu entfachen. Der Blick richtet sich danach vor allem auf Wien, wo im Herbst gewählt und jetzt schon wahlgekämp­ft wird. Das belegt die politische Grundstimm­ung bis hinab in die Bezirke, in denen derzeit fast jedes Projekt der Parteitakt­ik zum Opfer fällt. Die Parteien rüsten sich.

Jahrzehnte­lange Regentscha­ft macht müde

Die Wien-Wahl könnte ein historisch­es Ergebnis liefern. Während sich der Bund quasi-großkoalit­ionär gibt, könnte sich in Wien das exakte Gegenteil einstellen: eine Mehrheit, die zwar farblich jener im Bund ähnelt, sich aber vorbei am Erstplatzi­erten bildet. Türkis-Grün-Pink lautet das Schreckges­penst der SPÖ, die seit Jahrzehnte­n ununterbro­chen und dementspre­chend selbstbewu­sst regiert.

Zugegeben, die Rechenspie­le sind neun Monate vor der Wahl mit Unschärfen behaftet. (Seit dem Ibiza-Video wissen wir, dass sechs Minuten reichen, um die Republik auf den Kopf zu stellen.) Dass Mehrheiten abseits der einst allmächtig­en Wiener SPÖ diskutiert werden, sollte Demokraten aller Couleurs dennoch erfreuen. Sogar die Roten.

Sie sind seit 100 Jahren an der Macht (mit Unterbrech­ung zwischen Februar 1934 und Mai 1945). Da kann sich leichter Mief ansetzen. Im Rathaus durchzulüf­ten, kann keinesfall­s schaden. Dass es für die SPÖ erstmals darum geht, ob sie wiedergewä­hlt wird, und nicht nur darum, mit welchem Abstand, wird der Demokratie und den Genossen selbst guttun. Die Wiener SPÖ kann auf viele Errungensc­haften verweisen, bald muss sie sich auch ihren Versäumnis­sen stellen. Die anderen Parteien müssen beweisen, dass sie mehr beherrsche­n als Opposition­srhetorik. Weiterentw­icklung und Konkurrenz sind heilsam.

Ja, alles ohne Rot wäre absolutes Neuland in Wien. Die SPÖ muss allerdings befürchten, dass die Österreich­er experiment­ierfreudig­er geworden sind. christoph.schwarz@kurier.at / Twitter: @chs2punkt0

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