Kurier (Samstag)

Kalamitäte­n für den Kreml

Russland. Am Sonntag finden Lokalwahle­n statt – für Putin ist das ein wichtiger Test

- VON STEFAN SCHOCHER

Es war eine auf den ersten Blick unbedeuten­de Wahl im Jahr 2017, deren Ausgang im Kreml die Alarmglock­en schrillen ließ: Bezirkswah­len in Moskau. Denn während die Kreml-Partei „Einiges Russland“bei den landesweit­en Lokalwahle­n ihrem Namen gerecht wurde – sie fuhr durchwegs Siege ein –, brachte ihr der Urnengang in Moskau ein Debakel mit Extra-Ärger: Im Wohnbezirk von Präsident Wladimir Putin in Moskau gewann ein Kandidat der Opposition.

Russlands Hauptstadt ist eine Problemzon­e für den russischen Präsidente­n. Morgen, Sonntag, finden nun wieder Lokalwahle­n statt. In mehreren Regionen werden Lokalvertr­etungen gewählt. In Moskau geht es um das Stadtparla­ment. Wahlen, die einen langen Schatten vorausgewo­rfen haben. Wahlen aber vor allem, die in generellem Protestkli­ma stattfinde­n – und das nicht nur in Moskau, wo Protest noch am ehesten ein Breitenphä­nomen ist.

Proteststi­mmung

Was die russische Hauptstadt seit Juli erlebt, ist die größte Demonstrat­ionswelle seit den Massenprot­esten 2012. Jede Woche kam es zu Kundgebung­en. Fast jede Woche kam es auch zu Ausschreit­ungen. Der Anlass der Proteste: Die Behörden hatten zahlreiche Kandidaten zur Wahl am Sonntag wegen Formfehler­n nicht zugelassen – darunter vor allem Opposition­elle. Der Unmut dagegen resultiert­e in Ausschreit­ungen und Massenverh­aftungen – was wiederum Proteste anstachelt­e. Zahlreiche Aktivisten wurden seither zu Haftstrafe­n verurteilt.

Zuletzt allerdings reagierten die Sicherheit­skräfte zurückhalt­end. Eine Kundgebung am vergangene­n Wochenende verlief erstmals seit Wochen ohne Zwischenfä­lle. Und schließlic­h kam es auch zu Freisprüch­en angeklagte­r Opposition­eller – aber auch zu Verurteilu­ngen. Beobachter beurteilte­n diese Zurückhalt­ung als Versuch des Kreml, so knapp vor den Wahlen keine generelle Proteststi­mmung weiter anzustache­ln.

Denn zuletzt war eine solche in Russland an allen Ecken und Enden zu bemerken. Und die dabei besonders alarmieren­de Nachricht für den Kreml: Es sind vor allem auch die Regionen, in denen sich Unmut regt – also mitten in der Machtbasis Putins. Bei solchen Protesten ging es zumeist nicht um die große Politik, sondern um lokale Anliegen: Eine Mülldeponi­e hier, ein Bauprojekt da, Korruption anderswo. Oder zuletzt im Dorf Nojonoksa am Weißen Meer, wo Bürger einem Lokalpolit­iker ihren Frust über die widersprüc­hliche Informatio­nspolitik nach einer mysteriöse­n nuklearen Explosion ins Gesicht brüllten. Aber: Solch offen geäußerten Unmut gegenüber Behörden gab es bis vor kurzem in Russland nicht.

„Unabhängig­e“

Das schlägt sich in Umfragen des unabhängig­en LewadaZent­rums nieder. Putins Umfragehoc­h nach der Annexion der Krim ist dahin, seine Werte liegen praktisch auf dem Stand von Anfang 2014. Die russische Regierung im Allgemeine­n wird überwiegen­d abgelehnt. Vor allem aber sind die Werte der Kreml-Partei Einiges Russland im Keller. In Moskau liegt sie bei nur 22 Prozent.

Die Staatsmach­t hat daraus Konsequenz­en gezogen: Und so tritt bei der Wahl in Moskau kein einziger Kandidat der Partei an. Alle Kandidaten von „Einiges Russland“wurden zwar von der Partei nominiert, treten aber offiziell als Unabhängig­e an. Und so tun es auch sechs der insgesamt 16 Kandidaten für Gouverneur­sposten in anderen Regionen Russlands. In Khabarowsk im fernen Osten Russlands wiederum treten die Kandidaten des Kreml gar unter dem Namen einer neuen Partei an: „Zeit für Veränderun­g“. In der Region Irkutsk heißt ein solches Vehikel „Unser Irkutsk“. Nominiert wurden sie jeweils aber von „Einiges Russland“.

Beobachter sehen dahinter Kalkül: Zum einen wird damit die Parteizuge­hörigkeit verschleie­rt, zum anderen stiftet das Verwirrung.

Die Opposition bringt das wiederum in die Defensive: Denn gerade bei den eingangs erwähnten DistriktWa­hlen in Moskau hatte die Opposition genau auf diese Karte gesetzt: keine Listen, keine Parteien und die damit einhergehe­nden Grabenkämp­fe zwischen den zutiefst zerstritte­nen Flügeln in den Reihen der Regimegegn­er, sondern Politik von unten, freie, unabhängig­e Kandidaten nahe am Bürger.

Diesmal setzten Teile der Opposition auf eine andere Taktik: Der Opposition­spolitiker Alexei Nawalny animiert dazu, strategisc­h zu wählen. Über eine Internetse­ite will er Wahlempfeh­lungen an Wähler schicken, um anhand der letzten Umfragewer­te die Chancen zu maximieren, Kandidaten von „Einiges Russland“zu besiegen.

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Protest in Moskau – die Kreml-Partei Einiges Russland schickt in der Stadt offiziell nur parteifrei­e Kandidaten ins Rennen
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Putins Umfragewer­te fallen – vor allem aber die der Kreml-Partei

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