Netanjahu in der Zwickmühle
Der Deal zum Austausch der israelischen Geiseln ist ausverhandelt – doch Israels Premier zögert noch. Lässt er sich weiter Zeit, droht ein Protest-Tsunami. Stimmt er zu, kann das seine Koalition sprengen
Israel ist gespalten: Befreiung der israelischen Geiseln so schnell wie möglich? Oder so viele Kriegserfolge wie möglich im Kampf gegen die militanten Islamisten der Hamas im Gazastreifen? Israels innere Fronten verhärten sich, nachdem die Hamas einem neuen Vermittlungsvorschlag doch noch in weiten Teilen zustimmte.
Alle Unterhändler aus den Vermittlerstaaten USA, Katar und Ägypten stellen sich hinter den Vorschlag. Jetzt muss noch Israels Premier Benjamin Netanjahu zustimmen. Im Kabinett, wie in Israels öffentlicher Meinung, hätte er eine Mehrheit hinter sich. Doch er zaudert. Denn egal, ob dafür oder dagegen: Jede Entscheidung droht seine Koalition zu spalten.
„Bei einem Wohnungskauf wäre von einem unterzeichneten Vorvertrag die Rede“, folgert die Tageszeitung Yedioth. Israels Medien werten ihre jahrzehntelangen Erfahrungswerte in Sachen Netanjahu aus: Wie ist das Zaudern ihres Regierungschefs zu verstehen? Darum sehen sie den plötzlichen Vorstoß der israelischen Armee auf den Grenzübergang zwischen dem Gazastreifen und Ägypten bei Rafah vor allem als Ablenkungsversuch.
Auf Englisch fand dieser „örtlich begrenzt und in unbesiedeltem Gebiet“statt. Auf Hebräisch war es dagegen eine Vorstufe zu der seit Monaten angekündigten Offensive gegen die letzten vier Hamas-Brigaden in Rafah. Bisher ohne spürbare politische oder militärische Folgen. Israels plötzliche Präsenz am Grenzübergang brachte die Hamas auch nicht von ihrer Zustimmung ab.
Waffenlieferung gestoppt
Der Ball bleibt also bei Netanjahu und er kann ihn eigentlich nur in eine Richtung spielen. Könnte eine Ablehnung doch die öffentliche Meinung zum Überkochen bringen. Am Mittwoch wurde der Tod einer weiteren Geisel bekannt. Noch am Morgen versperrten protestierende Geiselangehörige erneut die Schnellstraße an der Einfahrt nach Tel Aviv. Der Morgenstau steigerte sich ins Chaos. Nächste Woche begeht Israel den Gefallenengedenktag und den Nationalfeiertag. Bei weiterem Zaudern droht ein Protest-Tsunami.
Mehr noch: Netanjahu riskiert das Leben der Geiseln, zusätzlich aber auch Israels internationale Stellung. So stoppten die USA eine bereits ladefertige Lieferung von 6.500 Präzisionszielgeräten an Israel. „Weil wir eine breit angelegte Offensive gegen Rafah befürchteten“, heißt es aus Washington. Weitere Lieferstopps sind möglich.
Lehnt Netanjahu rundweg ab, wäre auch das neue regionale Bündnis mit den prowestlichen Anrainerstaaten in Nahost gegen die iranische Bedrohung gefährdet. Kommt es nicht zu einer baldigen Feuerpause
im Gazastreifen, blieben auch die US-Bemühungen um einen Waffenstillstand an Israels Nordgrenze erfolglos. Die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah macht die Einstellung ihrer täglichen Angriffe auf Nordisrael von einer Feuerpause im Gazakrieg abhängig.
Beide Seiten fordern jetzt Nachbesserungen im vorliegenden Abkommen. Eine Einigung darüber sollte aber möglich sein. Gibt es doch keine allzu großen Unterschiede zu dem ersten Abkommen, das im November 2023 von der Hamas vorzeitig gebrochen wurde. Sie will wöchentliche Abstände zwischen den Austauschstufen. Israel fordert einen Drei-Tage-Rhythmus.
Problematisch, aber lösbar: Im ersten Austausch beharrt Israel auf die Freilassung von 33 Frauen, Kindern und Kranken. Hamas gibt an, nur 22 lebende Geiseln mit diesen Kriterien im Gewahrsam zu haben. Stattdessen bietet sie Leichen ermordeter
Geiseln an. Auch die Zahl der freizulassenden Hamas-Terroristen aus israelischer Haft ist noch unklar. Israel wie Hamas fordern dabei ein VetoRecht bei der Aufstellung von Namenslisten.
Kriegsende offen
Das größte Problem: Wie kann die 40-tägige Feuerpause nach der ersten Stufe verlängert werden? Die Hamas fordert im Voraus Garantien der Vermittlerstaaten zu einem Kriegsende. Israels Armee soll nach vier Monaten aus Gaza abziehen. Israel will ein Kriegsende aber offenlassen und von einer vollständigen Einhaltung des Abkommens durch die Hamas abhängig machen.
Ein positives Signal ist die Wiederaufnahme der Verhandlungen in Kairo. Die Kriegsparteien sitzen auch diesmal nicht in einem Raum mit den Vermittlern. Doch Delegationen Israels und der Hamas sind immerhin gleichzeitig in Kairo angereist.