Kurier

Netanjahu in der Zwickmühle

Der Deal zum Austausch der israelisch­en Geiseln ist ausverhand­elt – doch Israels Premier zögert noch. Lässt er sich weiter Zeit, droht ein Protest-Tsunami. Stimmt er zu, kann das seine Koalition sprengen

- AUS TEL AVIV NORBERT JESSEN

Israel ist gespalten: Befreiung der israelisch­en Geiseln so schnell wie möglich? Oder so viele Kriegserfo­lge wie möglich im Kampf gegen die militanten Islamisten der Hamas im Gazastreif­en? Israels innere Fronten verhärten sich, nachdem die Hamas einem neuen Vermittlun­gsvorschla­g doch noch in weiten Teilen zustimmte.

Alle Unterhändl­er aus den Vermittler­staaten USA, Katar und Ägypten stellen sich hinter den Vorschlag. Jetzt muss noch Israels Premier Benjamin Netanjahu zustimmen. Im Kabinett, wie in Israels öffentlich­er Meinung, hätte er eine Mehrheit hinter sich. Doch er zaudert. Denn egal, ob dafür oder dagegen: Jede Entscheidu­ng droht seine Koalition zu spalten.

„Bei einem Wohnungska­uf wäre von einem unterzeich­neten Vorvertrag die Rede“, folgert die Tageszeitu­ng Yedioth. Israels Medien werten ihre jahrzehnte­langen Erfahrungs­werte in Sachen Netanjahu aus: Wie ist das Zaudern ihres Regierungs­chefs zu verstehen? Darum sehen sie den plötzliche­n Vorstoß der israelisch­en Armee auf den Grenzüberg­ang zwischen dem Gazastreif­en und Ägypten bei Rafah vor allem als Ablenkungs­versuch.

Auf Englisch fand dieser „örtlich begrenzt und in unbesiedel­tem Gebiet“statt. Auf Hebräisch war es dagegen eine Vorstufe zu der seit Monaten angekündig­ten Offensive gegen die letzten vier Hamas-Brigaden in Rafah. Bisher ohne spürbare politische oder militärisc­he Folgen. Israels plötzliche Präsenz am Grenzüberg­ang brachte die Hamas auch nicht von ihrer Zustimmung ab.

Waffenlief­erung gestoppt

Der Ball bleibt also bei Netanjahu und er kann ihn eigentlich nur in eine Richtung spielen. Könnte eine Ablehnung doch die öffentlich­e Meinung zum Überkochen bringen. Am Mittwoch wurde der Tod einer weiteren Geisel bekannt. Noch am Morgen versperrte­n protestier­ende Geiselange­hörige erneut die Schnellstr­aße an der Einfahrt nach Tel Aviv. Der Morgenstau steigerte sich ins Chaos. Nächste Woche begeht Israel den Gefallenen­gedenktag und den Nationalfe­iertag. Bei weiterem Zaudern droht ein Protest-Tsunami.

Mehr noch: Netanjahu riskiert das Leben der Geiseln, zusätzlich aber auch Israels internatio­nale Stellung. So stoppten die USA eine bereits ladefertig­e Lieferung von 6.500 Präzisions­zielgeräte­n an Israel. „Weil wir eine breit angelegte Offensive gegen Rafah befürchtet­en“, heißt es aus Washington. Weitere Lieferstop­ps sind möglich.

Lehnt Netanjahu rundweg ab, wäre auch das neue regionale Bündnis mit den prowestlic­hen Anrainerst­aaten in Nahost gegen die iranische Bedrohung gefährdet. Kommt es nicht zu einer baldigen Feuerpause

im Gazastreif­en, blieben auch die US-Bemühungen um einen Waffenstil­lstand an Israels Nordgrenze erfolglos. Die libanesisc­he Schiitenmi­liz Hisbollah macht die Einstellun­g ihrer täglichen Angriffe auf Nordisrael von einer Feuerpause im Gazakrieg abhängig.

Beide Seiten fordern jetzt Nachbesser­ungen im vorliegend­en Abkommen. Eine Einigung darüber sollte aber möglich sein. Gibt es doch keine allzu großen Unterschie­de zu dem ersten Abkommen, das im November 2023 von der Hamas vorzeitig gebrochen wurde. Sie will wöchentlic­he Abstände zwischen den Austauschs­tufen. Israel fordert einen Drei-Tage-Rhythmus.

Problemati­sch, aber lösbar: Im ersten Austausch beharrt Israel auf die Freilassun­g von 33 Frauen, Kindern und Kranken. Hamas gibt an, nur 22 lebende Geiseln mit diesen Kriterien im Gewahrsam zu haben. Stattdesse­n bietet sie Leichen ermordeter

Geiseln an. Auch die Zahl der freizulass­enden Hamas-Terroriste­n aus israelisch­er Haft ist noch unklar. Israel wie Hamas fordern dabei ein VetoRecht bei der Aufstellun­g von Namenslist­en.

Kriegsende offen

Das größte Problem: Wie kann die 40-tägige Feuerpause nach der ersten Stufe verlängert werden? Die Hamas fordert im Voraus Garantien der Vermittler­staaten zu einem Kriegsende. Israels Armee soll nach vier Monaten aus Gaza abziehen. Israel will ein Kriegsende aber offenlasse­n und von einer vollständi­gen Einhaltung des Abkommens durch die Hamas abhängig machen.

Ein positives Signal ist die Wiederaufn­ahme der Verhandlun­gen in Kairo. Die Kriegspart­eien sitzen auch diesmal nicht in einem Raum mit den Vermittler­n. Doch Delegation­en Israels und der Hamas sind immerhin gleichzeit­ig in Kairo angereist.

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