Ohrfeige aus Kiew bringt Berlin völlig aus dem Tritt
Berlin zerfranst sich in einer Debatte um Kiew-Besuche und Waffenlieferungen – in der Ukraine wächst die Wut. Für Olaf Scholz ist das die erste Bewährungsprobe: Er setzt seine Rolle in der Weltpolitik aufs Spiel
Am Tag nach der Ausladung war das politische Deutschland mit Selbstbeschau beschäftigt. Kann man Wolodimir Selenskij übel nehmen, dass er den deutschen Staatschef nicht sehen will? Oder ist es nicht an der Zeit, das deutsche Verhalten gegenüber Kiew kräftig zu hinterfragen?
Der ukrainische Präsident hat mit der Ansage, Frank-Walter Steinmeier wegen seiner Nähe zu Moskau nicht zu empfangen, schonungslos den Finger auf die Wunden deutscher Außenpolitik gelegt. Steinmeier, der als Außenminister unter Merkel tätig war, gilt in der Ukraine als jemand, der den Russen nach 2014 viel mehr Macht zugestanden hat, als realpolitisch nötig gewesen wäre. Kiew sieht ihn als Werkzeug Putins. Gestern äußerste sich Steinmeier dann eindeutig: „Es geht um die Unterstützung derjenigen, die den tapferen Kampf gegen die russischen Angreifer führen, mit Schutzausrüstung und ja, auch mit Waffen!“Kiew: Vielleicht könne der Besuch ja nachgeholt werden.
Dass Selenskij zunächst statt Steinmeier Kanzler Olaf Scholz einlud, allerdings unter der Bedingung, dass der mit einer Lieferung schwerer Waffen im Gepäck kommen solle, war die nächste Ohrfeige. Scholz muss sich seit Tagen anhören, er solle doch – wie viele andere europäische Politiker – endlich einen Solidaritätsbesuch in Kiew absolvieren; er suchte bisher immer Ausflüchte.
Zudem setzen ihn seine Koalitionspartner unter Druck: Die Grünen, allen voran Außenministerin Annalena Baerbock, fordern die Lieferung von Panzern und Artillerie, die FDP trommelt dasselbe. Der Kanzler aber will „keine Alleingänge“Deutschlands und spricht diplomatisch von „sorgfältig abgewogenem Handeln“, seine SPD-Verteidigungsminister Christine
Lambrecht argumentierte gar, bei einer Panzerlieferung wäre die Bundeswehr nicht mehr einsatzbereit. Selbst Anfragen für leichte Waffen aus der Ukraine ließ man wochenlang liegen – die deutsche Bürokratie sei der Grund, hieß es.
Hintergrund dieses Lavierens ist die „Angst, durch Waffenlieferungen direkt in den Krieg gezogen zu werden“, wie SPD-Fraktionsvize Detlef Müller formulierte. Angela Merkels Ex-Militärberater Erich Vad meinte gar, die Lieferung schwerer Waffen sei ein „Weg in den Dritten Weltkrieg“.
Für den ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk in Berlin – er ist nie um eine verbale Breitseite verlegen – ist das eine klassische „Putin-Versteherei“. Diesen Vorwurf muss sich Berlin schon lange gefallen lassen: Schon vor Kriegsausbruch sorgte Annalena Baerbock für einen Eklat, weil sie bei einem Kiew-Besuch ihr damaliges Nein zu Waffenlieferungen mit der „historischen Verantwortung Deutschlands aus dem Zweiten Weltkrieg“argumentierte – Waffen in ein Land zu liefern, das Russen töte, das gehe wegen des Russlandfeldzugs Hitlerdeutschlands nicht, so die Logik. Für Kiew ein Hohn: Hitlers Schergen haben in der Ukraine acht Millionen Menschen auf dem Gewissen – ein Viertel der Bevölkerung.
Belastungsprobe
Baerbocks Position hat sich mittlerweile gewandelt – das hat sich auf der Weltbühne ausgezahlt. Dort spielt sie eine tragende Rolle, im Unterschied zu Scholz. Der war seit Langem nicht mehr im Ausland präsent, schlug gestern Selenskijs Einladung aus. Man wolle sich nicht vorschreiben lassen, wer wann anreisen dürfe, so der inoffizielle Tenor. Ob sich diese vermeintliche Härte auf lange Sicht auszahlt, ist fraglich: Erste Stimmen nach einer Ablöse Steinmeiers werden laut – das wird wohl Scholz’ nächste Belastungsprobe.
„Die Ausladung Frank-Walter Steinmeiers ist etwas irritierend, um es höflich zu sagen“ Olaf Scholz Deutscher Bundeskanzler „Die Menschen haben Angst, durch die Lieferung schwerer Waffen direkt in einen Krieg gezogen zu werden“ Detlef Müller SPD-Fraktionsvize