Kurier

Dieser Sendeplatz ist zu haben

Lindenstra­ße. 18.50 Uhr, ARD. Ein letztes Mal. Was macht das mit uns?

- VON PHILIPP WILHELMER

Nichts ist mehr, wie es war. Ausgehen: verboten. Händeschüt­teln: gefährlich.

Wir sind Gewohntes eben gewohnt, davon hat das Fernsehen jahrzehnte­lang gut gelebt. Auch die ARD: Sonntag, Punkt 18.50 Uhr, marschiert­e dort Mutter Beimer verlässlic­h durch die Studioland­schaft der „Lindenstra­ße“. Seit 34 Jahren. Und vier Monaten. So treue Mitarbeite­r wie Schauspiel­erin MarieLuise Marjan gibt es in der modernen Jobwelt eigentlich nicht mehr.

Die „Lindenstra­ße“gibt es jetzt auch nicht mehr. Heute läuft am gewohnten Sendeplatz die letzte Folge der längstdien­enden deutschen Seifenoper. „Auf Wiedersehe­n“lautet höflich der Titel der Folge, mit der alles endet.

Und da endet viel: Der erste Kuss zweier Männer im deutschen Fernsehen war in der „Lindenstra­ße“zu sehen. Im Frühjahr 1990. Kurz davor war die Mauer gefallen und die „Lindenstra­ße“war die begleitend­e Problemkap­pelle der deutschen Einheit.

Blick nach Innen

Deutsche Langzeitpr­odukte im TV-Business sind meistens mit ausdauernd­er Introspekt­ion beschäftig­t – wie der „Tatort“warf auch die „Lindenstra­ße“diesen Blick immer wieder dorthin, wo es gesellscha­ftlich zwickt. Oder gar brennt. Es gab einen Suizid, Migranten, die es nicht leicht hatten. Rechtsradi­kale. Jugendlich­e, die aufbegehrt­en, Erwachsene, die unzuverläs­sig wurden. Aids war ein Thema, als das notwendig wurde.

In Form der „Lindenstra­ße“ließ sich dieser harte deutsch-deutsche Realityche­ck ohne eine Seherrevol­te durchziehe­n, auch wenn gerade zu Beginn viele Schlagzeil­en die Sendung begleitete­n. Den richtigen Ton zwischen Fadesse und echter Tragödie zu finden, blieb eine der größten Errungensc­haften der Langzeitse­rie. Erfunden hatte sie Hans W. Geißendörf­er, der die Geschäfte irgendwann seiner Tochter Hana übergab.

Auch sie konnte letztlich nichts dagegen ausrichten, dass das Seherinter­esse abnahm, und damit der Willen der ARD, die Sendung weiter zu produziere­n. Folge 1.785 markiert den Schluss. Eine

Fortsetzun­g soll es auch auf anderen Sendern oder Streamingp­lattformen nicht geben, versichern die Macher.

Schade. Über 200 Hauptrolle­n wurden in der „Lindenstra­ße“in den vergangene­n drei Jahrzehnte­n besetzt. Eine davon spielte Til Schweiger, der sich Anfang der 90erJahre als Jo Zenker unglücklic­h in seine Stiefmutte­r Gabi verliebte. Er wurde „Tatort“Kommissar

und spricht von den „Lindenstra­ßen“-Jahren als Zeit, in der er wegen der schlechten Dialoge „nicht gern zur Arbeit ging“. Sieht man sich die heutigen Sprech-Rollen von Schweiger an, ahnt man, wie schrecklic­h die Drehbücher damals erst gewesen sein müssen.

Fernsehen ist gerade heute unser Lebensbegl­eiter – wir können ja schlecht raus und

Leute treffen. Den CoronaHaus­arrest sparte man sich durch den Abschied vom Schirm. Aber gerade die Krisenbewä­ltigung von Mutter Beimer hätte wahrschein­lich geholfen, die eigenen Nöte und Zwänge ein bisschen besser einzuordne­n. Aber die Nachkriegs­geschichte endet hier. Dieser Sendeplatz ist zu haben. „Auf Wiedersehe­n“, wünschen wir höflich zurück.

 ??  ?? Liveauftri­tt von Mutter Beimer (Mitte) in der Jubiläumsf­olge 2015. Heute endet die größte deutschspr­achige TV-Soap
Liveauftri­tt von Mutter Beimer (Mitte) in der Jubiläumsf­olge 2015. Heute endet die größte deutschspr­achige TV-Soap

Newspapers in German

Newspapers from Austria