Dieser Sendeplatz ist zu haben
Lindenstraße. 18.50 Uhr, ARD. Ein letztes Mal. Was macht das mit uns?
Nichts ist mehr, wie es war. Ausgehen: verboten. Händeschütteln: gefährlich.
Wir sind Gewohntes eben gewohnt, davon hat das Fernsehen jahrzehntelang gut gelebt. Auch die ARD: Sonntag, Punkt 18.50 Uhr, marschierte dort Mutter Beimer verlässlich durch die Studiolandschaft der „Lindenstraße“. Seit 34 Jahren. Und vier Monaten. So treue Mitarbeiter wie Schauspielerin MarieLuise Marjan gibt es in der modernen Jobwelt eigentlich nicht mehr.
Die „Lindenstraße“gibt es jetzt auch nicht mehr. Heute läuft am gewohnten Sendeplatz die letzte Folge der längstdienenden deutschen Seifenoper. „Auf Wiedersehen“lautet höflich der Titel der Folge, mit der alles endet.
Und da endet viel: Der erste Kuss zweier Männer im deutschen Fernsehen war in der „Lindenstraße“zu sehen. Im Frühjahr 1990. Kurz davor war die Mauer gefallen und die „Lindenstraße“war die begleitende Problemkappelle der deutschen Einheit.
Blick nach Innen
Deutsche Langzeitprodukte im TV-Business sind meistens mit ausdauernder Introspektion beschäftigt – wie der „Tatort“warf auch die „Lindenstraße“diesen Blick immer wieder dorthin, wo es gesellschaftlich zwickt. Oder gar brennt. Es gab einen Suizid, Migranten, die es nicht leicht hatten. Rechtsradikale. Jugendliche, die aufbegehrten, Erwachsene, die unzuverlässig wurden. Aids war ein Thema, als das notwendig wurde.
In Form der „Lindenstraße“ließ sich dieser harte deutsch-deutsche Realitycheck ohne eine Seherrevolte durchziehen, auch wenn gerade zu Beginn viele Schlagzeilen die Sendung begleiteten. Den richtigen Ton zwischen Fadesse und echter Tragödie zu finden, blieb eine der größten Errungenschaften der Langzeitserie. Erfunden hatte sie Hans W. Geißendörfer, der die Geschäfte irgendwann seiner Tochter Hana übergab.
Auch sie konnte letztlich nichts dagegen ausrichten, dass das Seherinteresse abnahm, und damit der Willen der ARD, die Sendung weiter zu produzieren. Folge 1.785 markiert den Schluss. Eine
Fortsetzung soll es auch auf anderen Sendern oder Streamingplattformen nicht geben, versichern die Macher.
Schade. Über 200 Hauptrollen wurden in der „Lindenstraße“in den vergangenen drei Jahrzehnten besetzt. Eine davon spielte Til Schweiger, der sich Anfang der 90erJahre als Jo Zenker unglücklich in seine Stiefmutter Gabi verliebte. Er wurde „Tatort“Kommissar
und spricht von den „Lindenstraßen“-Jahren als Zeit, in der er wegen der schlechten Dialoge „nicht gern zur Arbeit ging“. Sieht man sich die heutigen Sprech-Rollen von Schweiger an, ahnt man, wie schrecklich die Drehbücher damals erst gewesen sein müssen.
Fernsehen ist gerade heute unser Lebensbegleiter – wir können ja schlecht raus und
Leute treffen. Den CoronaHausarrest sparte man sich durch den Abschied vom Schirm. Aber gerade die Krisenbewältigung von Mutter Beimer hätte wahrscheinlich geholfen, die eigenen Nöte und Zwänge ein bisschen besser einzuordnen. Aber die Nachkriegsgeschichte endet hier. Dieser Sendeplatz ist zu haben. „Auf Wiedersehen“, wünschen wir höflich zurück.