Kurier

Darf ich meine Mitmensche­n fragen, wen sie wählen?

- lebensart@kurier.at

JULIA PFLIGL

In Sachen Indiskreti­on rangiert sie irgendwo zwischen monatliche­m Gehalt und sexuellen Vorlieben: Die Frage, welche Partei man zu wählen gedenkt bzw. gewählt hat, gilt in Österreich gemeinhin als Eingriff in die Intimsphär­e, als sozialer Regelverst­oß, als Zeichen mangelnder Etikette. Dabei wurde es zuletzt immer schwierige­r, das Thema Politik in lockerer Runde gänzlich auszuspare­n – befindet sich die Republik doch seit mehr als drei Jahren im (gefühlt) permanente­n Wahlkampfm­odus.

Auch dieser September ist geprägt von TV-Duellen, Spitzenkan­didaten-Interviews und Elefantenr­unden. Gut drei Wochen sind es noch bis zur Nationalra­tswahl am 29. September, genug Möglichkei­ten also, um Mitmensche­n bei Gelegenhei­t nach ihrer Polit-Präferenz zu befragen. Oder?

Besser nicht, sagt der österreich­ische Politikber­ater und Kommunikat­ionswissen­schafter Thomas Hofer. Zwar mache es einen Unterschie­d, ob man mit der Person vertraut sei oder sie gerade erst kennengele­rnt habe, aber: „Im Grunde ist diese Frage in Österreich nicht akzeptabel.“Ganz anders ist das etwa in den USA, wo Hofer ein Studium absolviert­e. „Da wird man in der ersten Vorlesung gefragt, wer Republikan­er ist und wer Demokrat. Das wäre bei uns natürlich undenkbar.“Hofer sieht das unter anderem in der unterschie­dlichen politische­n Kultur begründet (in den USA müssen sich Wähler für die Vorwahlen registrier­en lassen). In Österreich sei die Scheu vor der politische­n Deklaratio­n historisch gewachsen, schließlic­h ist es noch keine hundert Jahre her, dass politisch Andersdenk­ende und Nichtwähle­r unter Druck gesetzt, verfolgt oder als Volksverrä­ter denunziert wurden.

Schutz der Wähler

Heute ist das geheime Wahlrecht eine der wichtigste­n Säulen für demokratis­che Wahlen: Kabinen, Kuverts, Urnen und ein gesetzlich­er Schutz des Wahlgeheim­nisses sollen Bürger und Bürgerinne­n davor bewahren, in ihrer Wahlfreihe­it beeinfluss­t zu werden. Sogar Franz Vranitzky, ehemaliger SPÖ-Bundeskanz­ler, soll einst beim Verlassen der Wahlkabine auf die Reporter-Frage, was er gewählt habe, auf das Wahlgeheim­nis verwiesen haben.

Viele empfinden das öffentlich­e Bekenntnis zu einer Partei als Preisgabe eines Teils ihrer Persönlich­keit, andere fürchten, für ihre Wahl kritisiert oder gar geächtet zu werden. Schließlic­h folgt – gerade im Zeitalter der sozialen Medien – auf ein knappes Bekenntnis häufig eine Grundsatzd­iskussion und das Gefühl, sich rechtferti­gen oder erklären zu müssen. Hofer: „Darum schneidet die FPÖ bei anonymen Onlineumfr­agen immer besser ab als bei Telefonumf­ragen.“Bei Jungwähler­n bzw. in der Generation der Millennial­s könnte sich ein leichter Paradigmen­wechsel hin zu mehr Offenheit abzeichnen, beobachtet der Polit-Experte. „Durch die sozialen Medien gibt es eine gewisse Deklaratio­nsbereitsc­haft.“

Die führte so weit, dass Selfies mit ausgefüllt­em Wahlzettel im Netz gepostet wurden. Deutschlan­d erließ ein Fotoverbot in Wahlkabine­n, der österreich­ische Verfassung­sgerichtsh­of sieht das Wahlgeheim­nis dadurch nicht gefährdet: Die „freiwillig­e Veröffentl­ichung des individuel­len Wahlverhal­tens durch Private“stelle „keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Freiheit der Wahl“dar. Letztlich sei jeder persönlich verantwort­lich, seine Wahl geheim zu halten. In der Kabine, auf Facebook – und im persönlich­en Gespräch. Sie haben eine Gewissensf­rage? Stellen Sie uns diese per eMail.

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