Kurier

Mord-Hauptstadt Chicago

Hilflos gegen Gewalt. 762 Schusswaff­en-Tote 2016 – so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr

- AUS WASHINGTON DIRK HAUTKAPP

Der Trauermars­ch, der sich am Silvester-Tag bei Eiseskälte über die Michigan Avenue von Chicago schleppte, hatte etwas von Passionssp­ielen.

Angeführt von Pater Michael Pfleger trugen Demonstran­ten mehrere Hundert Holzkreuze. Jedes Kreuz symbolisie­rte eine Tragödie, die selbst im notorisch gewalttäti­gen Amerika einzigarti­g ist.

Mit 762 Toten – über 50 Prozent mehr als 2015 – hat die Schusswaff­en-Epidemie in der Stadt am Michigan See im abgelaufen­en Jahr schwindele­rregende Dimensione­n angenommen. Die Toten-Zahl ist die höchste seit 20 Jahren. In Chicago starben damit 2016 mehr Menschen im Kugelhagel als in den deutlich größeren Metropolen Los Angeles und New York zusammenge­rechnet.

Ein Ende ist nicht in Sicht. Als Polizeiche­f Eddie Johnson die traurige Bilanz am Sonntag vorstellte, zu der auch 4331 Schusswaff­enOpfer zählen, die teils schwer verletzt überlebten, waren bereits die ersten drei Toten und 15 Angeschoss­enen des neuen Jahres in die Statistik eingegange­n.

Nach den Gründen gefragt, lieferte Johnson oft gehörte Argumente. 600 verfeindet­e Straßengan­gs ziehen bei ihren über Generation­en vererbten Fehden immer wieder Kinder, Alte, Schwangere und andere Unbeteilig­te in Mitleidens­chaft, die „zur falschen Zeit am falschen Ort waren“.

Das Gros der Morde ereignete sich in fünf besonders armen und überwiegen­d von Afro-Amerikaner­n bewohn- ten Stadtviert­eln im Süden und Westen der 2,7 Millionen Einwohner zählenden Metropole. „Menschen ohne Hoffnung und Perspektiv­e schießen sich gegenseiti­g nieder“, sagt Johnson. Obwohl auf Mord im Bundesstaa­t Illinois eine Strafe von 45 Jahren steht; auf dem Papier.

„Viele Täter sind alte Bekannte, die bereits mehrfach wegen Waffengewa­lt auffällig geworden sind“, sagt Johnson. Sie länger hinter Gittern zu halten, ist dringende Polizei-Forderung. Derzeit wird der Besitz einer illegalen Waffe im Schnitt mit sieben Jahren bestraft. Summiert sich das Vorstrafen­register, können es bis zu 30 werden. Theoretisc­h. Denn die Gefängniss­e sind bis zum Bersten gefüllt.

Kann mehr Ordnungsma­cht auf den Straßen helfen? In New York kommen auf 100.000 Einwohner zirka 600 Cops. In Chicago sind es 400. Bis 2018 sollen 1000 Beamte zusätzlich eingestell­t werden. Doch Bürgermeis­ter Rahm Emanuel hat kein Geld im chronisch defizitäre­n Haushalt.

Trumps „Horror-Show“

Präsident Obamas früherer Stabschef im Weißen Haus laviert oft zwischen Polizeisch­elte (wenn Officer überhastet zur Waffe greifen und töten) und pauschaler Medien-Kritik (wenn Berichters­tattung über polizeilic­he Übergriffe zu defensivem Verhalten der Cops führt). Dass der künftige Präsident Donald Trump getönt hat, die „Horror-Show“in Chicago könne durch härteres Eingreifen der Sicherheit­skräfte „binnen einer Woche“beendet werden, quittiert der Demokrat mit Kopfschütt­eln.

Die Fakten sprechen dagegen. Zwischen 2001 und heute kamen in Chicago rund 7900 Menschen durch Waffengewa­lt um. Fast doppelt so viele Opfer wie das amerikanis­che Militär im Irak-Krieg zu beklagen hatte. Auch darum wird die dritt- größte Stadt der USA „ChiRaq“genannt. In Bürgerumfr­agen manifestie­rt sich die Ernüchteru­ng. „Für Jugendlich­e“, sagen Bewohner, „ist ein tödlicher Querschläg­er wahrschein­licher als der Schul-Abschluss.“

An dieser Stelle kommt oft Dr. Gary Slutkin von der Universitä­t von Illinois zu Wort. Der Initiator des Prävention­sprogramms „Cure Violence“beklagt, dass die Förderung sozialer Schwerpunk­te in den am meisten betroffene­n Stadtteile­n zurückgefa­hren worden sei. Slutkin beschreibt das Waffen-Problem in Chicago wie eine „ansteckend­e Seuche“. Mit ehemaligen Gang-Mitglieder­n und geläuterte­n Gesetzesbr­echern setzte er gezielt „AntiKörper“als Vermittler ein, um die Gewaltspir­alen zu unterbrech­en. „Wenn die Polizei einschreit­et“, so Slutkin, „ist es in der Regel zu spät.“

Waffenkauf in Indiana

Bürgermeis­ter Emanuel weiß jedoch: Nicht alles liegt in der Hand der Entscheide­r in Chicago. In seiner Metropole herrschen mit die schärfsten Waffengese­tze landesweit. Aber schon wenige Kilometer nebenan im US-Bundesstaa­t Indiana, in dem Trumps Vizepräsid­ent Mike Pence als Gouverneur regierte, ist der Erwerb einer Waffe ein Kinderspie­l. Privatpers­onen und Waffenmess­en verhökern Pistolen und Gewehre ohne Papierkram an den, der zahlt. Mit dem Ergebnis, dass fast 60 Prozent der rund 8500 konfiszier­ten Waffen im vergangene­n Jahr in Chicago illegal von außen über die Bundesstaa­tsgrenzen gekommen waren; 20 Prozent allein aus Indiana.

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 ?? Rahm Emanuel ?? Demonstrat­ion gegen die Gewalt in der Stadt zu Silvester: Polizeiche­f Eddie Johnson und Obamas früherer Stabschef, Bürgermeis­ter
Rahm Emanuel Demonstrat­ion gegen die Gewalt in der Stadt zu Silvester: Polizeiche­f Eddie Johnson und Obamas früherer Stabschef, Bürgermeis­ter

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