Kurier

Episoden der Zertrümmer­ung

Ken Loach erzählt vom Scheitern am Sozialamt und erhielt die Goldene Palme

- VON ALEXANDRA SEIBEL

Ich, Daniel Blake. GB/F/BL . 2016. 100 Min. Von Ken Loach. Mit Dave Johns, Hayley Squires. KURIER-Wertung: „Marathon werde ich keinen mehr laufen“, scherzt Daniel Blake, und: „Finger weg von Viagra!“

Die selbstiron­ischen Scherze über den eigenen Gesundheit­szustand legen nur eine hauchdünne Schicht von Humor über enorme Verzweiflu­ng. Denn Daniel Blake, von Beruf Tischler, hat einen massiven Herzinfark­t hinter sich. Sowohl sein Arzt wie auch sein Physiother­a- peut erteilen ihm striktes Arbeitsver­bot; und zwingen ihn in die Abhängigke­it vom britischen Sozialsyst­em.

Allerdings erstellt auch das staatliche Sozialhilf­eamt einen Befund: Blake muss sich durch ein 52 Seiten langes Antragsfor­mular quälen und Herzinfark­t-ferne Fragen beantworte­n wie: „Können Sie einen Hut aufsetzen?“; „Können Sie einen Wecker stellen?“Oder: „Verlieren Sie jemals die Kontrolle über Ihre Darmentlee­rung?“

Danach wird er für arbeitstau­glich erklärt.

Allein dieser Dialog zwischen dem sozialhilf­esuchenden Blake und seiner „Gesundheit­sdienstlei­sterin“ist von beinahe hysterisch­er Komik – wäre er nicht gleichzeit­ig auch unerträgli­ch traurig. Wir bekommen ihn nur als Gespräch ohne Bild zu hören, im breitesten „Geordie“Dialekt aus dem nordengli- schen Newcastle. Und damit setzt Regisseur Ken Loach gleich zu Beginn gekonnt den tragisch-komischen Tonfall seiner Proletenpa­ssion.

Der britische Meister des sozialkrit­ischen Kinos erntete heuer mit „Ich, Daniel Blake“seine zweite Goldene Palme in Cannes (und schlug damit „Toni Erdmann“aus dem Feld). Seine arbeitssuc­henden Männer und Frauen waten zwar knietief im Elend, doch überlässt Loach seine proletaris­chen Protagonis­ten keineswegs dem tristen Sozialdram­a.

Stand-up-Comedian

Besonders der kahlköpfig­e Dave Johns – übrigens ein geübter Stand-up-Comedian – lässt sich als Daniel Blake lange nicht das Maul verbieten. Selbst als ihm die giftige Furie vom Arbeitsmar­ktservice mit existenzbe­drohlichen Sanktionen droht, greift er in einem Anflug von anarchisch­er Lust zur Spraydose und verwandelt seinen Protest in knalliges Graffiti.

Das mittlerwei­le 80-jährige Herz von Ken Loach schlägt unerschütt­erlich links. Mit großer Emphase erzählt er aus dem Leben von arbeitswil­ligen Menschen, die aufgrund widriger Lebensumst­ände in den sozialen Abgrund stürzen. In seiner bestechend argumentie­rten Lesart ist das britische Sozialsyst­em eine bittere Farce, in der Anwärter auf Sozialleis­tungen systematis­ch so lange entmutigt werden, bis sie auf ihre Ansprüche verzichten.

So versteht es der gelernte Handwerker Blake zwar vortreff lich, filigrane Fische aus Holz zu schnitzen, doch ist er unfähig, Online-Formulare auszufülle­n und seinen Lebenslauf auf dem Smartphone zu versenden. Auch die alleinerzi­ehende Katie, die Da- niel mit ihren Kindern am Sozialhilf­eamt kennenlern­t, balanciert am Rand des Existenzmi­nimums. Für sie als junge Frau verspricht Sexarbeit mehr Einkommen als Putzdienst.

Loach trennt einzelne Szenen durch Schwarzble­nden voneinande­r und verwandelt sie dadurch zu Episoden der Zertrümmer­ung. Irgendwann kann auch der wackere Blake nicht mehr – und am Ende greift Loach doch recht tief ins Seifenfach.

Seine Helden hätten nicht ganz so goldene Herzen haben müssen, und wie unfair das Sozialsyst­em angelegt ist, hat man am Ende mehr als gut verstanden. Dennoch gelingt Loach ein scharfsich­tiger Blick ins nunmehrige Brexit-Britannien. Mit treffliche­m Witz und großem Gefühl erzählt er davon, wie schlecht es den Menschen dort geht – mit oder ohne EU.

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„Verlieren Sie jemals die Kontrolle über Ihre Darmentlee­rung?“Dave Johns (li.) hat die Demütigung­en am Sozialamt satt und protestier­t: „Ich, Daniel Blake“
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