Episoden der Zertrümmerung
Ken Loach erzählt vom Scheitern am Sozialamt und erhielt die Goldene Palme
Ich, Daniel Blake. GB/F/BL . 2016. 100 Min. Von Ken Loach. Mit Dave Johns, Hayley Squires. KURIER-Wertung: „Marathon werde ich keinen mehr laufen“, scherzt Daniel Blake, und: „Finger weg von Viagra!“
Die selbstironischen Scherze über den eigenen Gesundheitszustand legen nur eine hauchdünne Schicht von Humor über enorme Verzweiflung. Denn Daniel Blake, von Beruf Tischler, hat einen massiven Herzinfarkt hinter sich. Sowohl sein Arzt wie auch sein Physiothera- peut erteilen ihm striktes Arbeitsverbot; und zwingen ihn in die Abhängigkeit vom britischen Sozialsystem.
Allerdings erstellt auch das staatliche Sozialhilfeamt einen Befund: Blake muss sich durch ein 52 Seiten langes Antragsformular quälen und Herzinfarkt-ferne Fragen beantworten wie: „Können Sie einen Hut aufsetzen?“; „Können Sie einen Wecker stellen?“Oder: „Verlieren Sie jemals die Kontrolle über Ihre Darmentleerung?“
Danach wird er für arbeitstauglich erklärt.
Allein dieser Dialog zwischen dem sozialhilfesuchenden Blake und seiner „Gesundheitsdienstleisterin“ist von beinahe hysterischer Komik – wäre er nicht gleichzeitig auch unerträglich traurig. Wir bekommen ihn nur als Gespräch ohne Bild zu hören, im breitesten „Geordie“Dialekt aus dem nordengli- schen Newcastle. Und damit setzt Regisseur Ken Loach gleich zu Beginn gekonnt den tragisch-komischen Tonfall seiner Proletenpassion.
Der britische Meister des sozialkritischen Kinos erntete heuer mit „Ich, Daniel Blake“seine zweite Goldene Palme in Cannes (und schlug damit „Toni Erdmann“aus dem Feld). Seine arbeitssuchenden Männer und Frauen waten zwar knietief im Elend, doch überlässt Loach seine proletarischen Protagonisten keineswegs dem tristen Sozialdrama.
Stand-up-Comedian
Besonders der kahlköpfige Dave Johns – übrigens ein geübter Stand-up-Comedian – lässt sich als Daniel Blake lange nicht das Maul verbieten. Selbst als ihm die giftige Furie vom Arbeitsmarktservice mit existenzbedrohlichen Sanktionen droht, greift er in einem Anflug von anarchischer Lust zur Spraydose und verwandelt seinen Protest in knalliges Graffiti.
Das mittlerweile 80-jährige Herz von Ken Loach schlägt unerschütterlich links. Mit großer Emphase erzählt er aus dem Leben von arbeitswilligen Menschen, die aufgrund widriger Lebensumstände in den sozialen Abgrund stürzen. In seiner bestechend argumentierten Lesart ist das britische Sozialsystem eine bittere Farce, in der Anwärter auf Sozialleistungen systematisch so lange entmutigt werden, bis sie auf ihre Ansprüche verzichten.
So versteht es der gelernte Handwerker Blake zwar vortreff lich, filigrane Fische aus Holz zu schnitzen, doch ist er unfähig, Online-Formulare auszufüllen und seinen Lebenslauf auf dem Smartphone zu versenden. Auch die alleinerziehende Katie, die Da- niel mit ihren Kindern am Sozialhilfeamt kennenlernt, balanciert am Rand des Existenzminimums. Für sie als junge Frau verspricht Sexarbeit mehr Einkommen als Putzdienst.
Loach trennt einzelne Szenen durch Schwarzblenden voneinander und verwandelt sie dadurch zu Episoden der Zertrümmerung. Irgendwann kann auch der wackere Blake nicht mehr – und am Ende greift Loach doch recht tief ins Seifenfach.
Seine Helden hätten nicht ganz so goldene Herzen haben müssen, und wie unfair das Sozialsystem angelegt ist, hat man am Ende mehr als gut verstanden. Dennoch gelingt Loach ein scharfsichtiger Blick ins nunmehrige Brexit-Britannien. Mit trefflichem Witz und großem Gefühl erzählt er davon, wie schlecht es den Menschen dort geht – mit oder ohne EU.