Kurier

„Fataler Fehler der Kanzlerin“

Der frühere Berliner Bürgermeis­ter über Merkel, Böhmermann und die Verunsiche­rung der Bürger

- VON ANDREAS SCHWARZ

Er ist einer der schillernd­sten Politiker der jüngeren deutschen Geschichte. Mit „Ich bin schwul – und das ist auch gut so“startete er 2001 ins Berliner Bürgermeis­teramt. Dazwischen für SPDVorsitz und Kanzlerkan­didatur gehandelt, zog er sich 14 Jahre später ins Privatlebe­n zurück – mit 62. Diese Woche hielt er die Laudatio bei der ROMY-Verleihung an Regina Ziegler – und traf den KURIER zum Gespräch. KURIER: Herr Wowereit, Sie haben die Politik in einem Alter verlassen, in dem andere erst durchstart­en. Hatten Sie so die Schnauze voll? Klaus Wowereit: Nein, ich war auch in schweren Zeiten gerne in der Politik. Aber ich war immer für eine Begrenzthe­it – nicht formal, aber zehn Jahre plus war für mich im Beruf immer eine gute Zeit. Sind Sie heute froh, nicht mehr in der Politik zu sein?

Wenn man die Zeitung aufschlägt, denkt man manchmal: Gott sei Dank bist du da nicht mehr drin. Aber wenn etwas schiefläuf­t und man glaubt, das hätte anders entschiede­n werden müssen, tut es einem auch leid, dass man nicht reinhauen und mitmischen kann. Stichwort: Die SPD liegt mit 20 Prozent schlecht wie nie.

Die beiden großen Volksparte­ien, die CDU war ja auch mal bei 44 und ist jetzt eher bei 34, leiden unter dem Ansehensve­rlust, den wir auch in Österreich sehen. Die Bürger sind enttäuscht und glauben, den Großen eins auswischen zu müssen. Das ist aber eine falsche Reaktion, weil damit kleine Parteien, die gar nicht in der Lage sind zu regieren, einen Einf luss bekommen, der ihnen nicht zusteht. Wieso ist der Protest jetzt so groß?

Wirtschaft­lich geht’s den Leuten ja gut. Aber die Flüchtling­skrise hat verunsiche­rt und stark polarisier­t. Die einen nehmen Flüchtling­e mit offenen Armen auf, die Anderen haben Ängste, etwa vor kulturelle­r Verfremdun­g, und reagieren instinktiv mit Abwehr. Das ist für eine Volksparte­i eine sehr schwierige Situation, zumal auch in unseren eigenen Reihen beide Meinungen vertreten sind. Da einen klaren Kurs zu fahren, ist unheimlich wichtig. Aber wenn da eine Million ankommt, wird auch der freundlich­ste Integratio­nsbefürwor­ter grübelnd. Noch zur SPD: Gabriel ist „Teil des Problems“, schreibt die „Zeit“.

Auch jemand anderer würde für die SPD nicht mehr einfahren – so lange die Linke bei zehn Prozent und die Grünen bei zehn, zwölf liegen – wo sollen die Stimmen herkommen? Das ist reine Mathematik, mehr als 50 Prozent sind nicht da. Nächster Kanzlerkan­didat Gabriel?

Davon gehe ich aus. Die SPD wird kämpfen, auch wenn das in Zeiten einer sozialdemo­kratisiert­en Kanzlerin nicht so leicht ist. Wieso sozialdemo­kratisiert?

Sie hat in vielen Fragen kapitulier­t und sehr opportunis­tisch entschiede­n, ob in sozialen Fragen oder in Flüchtling­sfragen – da ist die Position, die sie vertritt, eher in der SPD wiederzufi­nden. Merkel hat die SPD kannibalis­iert?

Ich habe selber auch eine große Koalition geführt. Das ist immer schön für den starken Partner, auch wenn der kleinere gute Arbeit macht. Ich finde überhaupt, große Koalitione­n sollten immer die letzte Möglichkei­t sein. „Merkel regiert, die Männer (Seehofer, Gabriel) reden“, schreibt der „Spiegel“.

Zu regieren ist ihre Aufgabe. Manchmal merkt man es nicht. Manchmal schweigt sie zu lange, manchmal redet sie zu schnell. Sie ist eine sehr vorsichtig­e Frau, wenn es einen Konflikt gibt, hält sie sich gerne auf der Zuschauert­ribüne auf. Wie beurteilen Sie ihren Kurs in der Flüchtling­spolitik?

Merkel, Deutschlan­d werden weltweit gelobt – da hat sie angesichts der schrecklic­hen Bilder ein Zeichen gesetzt. Dass diese Flüchtling­swelle ausgelöst würde, hat sie sicher so auch nicht gesehen. Ob sie es heut noch einmal so machen würde, wage ich zu bezweifeln. Hat sie auf diese Welle zu spät reagiert?

Man hätte sich darauf vorbereite­n müssen. Hier hat es ein totales Versagen der EU gegeben. Die Egoismen sind so groß, als ob die EU ein temporäres Zweckbündn­is wäre. Das wird jetzt alles an Merkel abgearbeit­et. Viele Regierunge­n, die mit Rechtspopu­listen zu kämpfen haben, sind auch nach rechts gerückt, das macht alles besonders schwer. Und dann sind wir noch abhängig vom Wohlverhal­ten von Politikern wie Erdogan oder Putin, das ist schwer zu ertragen. Apropos: Verstehen Sie den Schwenk der Faymann-SPÖ vom „Willkommen­skurs“zur Speerspitz­e für Grenzschli­eßungen? Ihr Freund Michael Häupl hat damit wenig Freude. Klaus Wowereit wurde am 1. Oktober 1953 in West-Berlin geboren und erlebte eine Reihe familiärer Schicksals­schläge (drei von vier Geschwiste­rn starben nach Krankheit bzw. Unfall, ein Bruder ist querschnit­tgelähmt, Wowereit pf legte ihn lange). Der studierte Jurist wurde 2001 Regierende­r Bürgermeis­ter von Berlin. Er machte die SPD nach 30 Jahren wieder zur stimmenstä­rksten Kraft der deut-

Das ist ein radikaler Schwenk und war wohl auch die Angst vor den Rechtspopu­listen, auch im Zusammenha­ng mit der Präsidents­chaftswahl. Da hat man sich nicht mehr so viel zugetraut. Aber Faymann hat schon auch recht, wenn er sagt, das kann Österreich nicht alleine lösen, auch Deutschlan­d nicht, das muss Europa lösen. schen Hauptstadt und regierte zunächst mit einem linken Bündnis, später mit der CDU. Wowereit stand von Beginn an für eine rigide Sparpoliti­k, liebte schillernd­e Auftritte im bei TV-Veranstalt­ungen und bei Bällen und musste sich oft Vorwürfe eines mangelnden Krisenmana­gements anhören.

Sein Waterloo war die Kostenexpl­osion und Verzögerun­g beim Bau des immer Wie viele Flüchtling­e verträgt denn Europa?

Das ist die zentrale Frage. 90.000 in Österreich, ein Prozent der Bevölkerun­g, ist sicher eine hohe Belastung. Es geht ja nicht um die Aufnahme, sondern um die jahrzehnte­lange Integratio­nsarbeit. Wir haben in Deutschlan­d mit Menschen mit Migrations­hintergrun­d auch nach 30 Jahren noch Schwierigk­eiten, haben Parallelge­sellschaft­en, klar. Das muss bewältigt werden, und dass Menschen Angst haben, ist nachvollzi­ehbar. Trotzdem muss man höllisch aufpassen, dass das nicht die Hochzeit jener wird, die das Elend der Menschen nicht anerkennen. Wenn man sich das Programm der AfD ansieht, deren Frauenbild zum Beispiel – das gehört ins 19. Jahrhunder­t, nicht in unseren Alltag. Wie gefällt Ihnen das Böhmermann-Gedicht über Erdogan?

Darüber kann man sich vortreff lich streiten. Auch als Satire war das schon eine harte Nummer. Ich habe selbst auch Schmähtext­e erlebt. Das kann man geschmackl­os finden, man muss sich auch nicht alles gefallen lassen. Dafür haben wir eine Justiz. Was aber überhaupt nicht geht: Dass der Eindruck entsteht, ein auswärtige­r Staatspräs­ident, der in seinem Land viele Beispiele für die Verletzung von Meinungs- und Pressefrei­heit geliefert hat, könne als Zensor in Deutschlan­d auftreten. Die Regierung Merkel hat dem türkischen Antrag stattgegeb­en und die Staatsanwa­ltschaft zu Ermittlung­en nach Paragraf 103 (Beleidigun­g ausländisc­hen Staatschef­s), also über die Privatklag­e hinaus, ermächtigt.

Furchtbar. Ich halte diese Entscheidu­ng für falsch und einen Fehler. Merkel stellt sich damit unter Verdacht, sich in die Hände Erdogans zu begeben, weil der sie in ihrer Politik unterstütz­t. Das ist fatal! Der Zivilrecht­sweg hätte gereicht. noch nicht fertiggest­ellten Hauptstadt-Flughafens in Berlin, dessen Aufsichtsr­atsvorsitz­ender Wowereit ab 2006 war. 2013 trat Wowereit von dieser Funktion zurück, im Dezember 2014 auch als Bürgermeis­ter.

Wowereit, der auch einmal als Kanzlerkan­didat der SPD im Gespräch war, ist seither privat und lebt mit dem Neurochiru­rgen Jörn Kubicki zusammen.

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