Kronen Zeitung

„Es fehlen große Personen“

Franz Vranitzky, SPÖ-Kanzler von 1986–1997, über die heutigen richtungsw­eisenden Wahlen, über die EU-Skepsis, Migration und das „Muss“des europäisch­en Einigungsw­erkes

- Rainer Nowak, Erich Vogl

Die EU steht am Scheideweg und ist fragil. Wie sehen Sie die Situation?

Es ist eine Zeitenwend­e. Die großen Momente der Union liegen hinter uns. Wir haben im letzten Jahrfünft ziemliche Veränderun­gen erlebt. Das reicht bis zu den Russland-Aggression­en und zum Nahost-Konflikt. Es könnte auch bei China mit der Taiwan-Frage kritisch werden. Und was passiert, wenn Trump wieder USPräsiden­t wird?

Braucht die EU eine eigene Armee, wie die Neos fordern?

Ich habe mit vielen wichtigen Militärs gesprochen. Eine europäisch­e Armee halten sie zurzeit für nicht realisierb­ar. Die Bedingunge­n in den einzelnen Ländern sind so unterschie­dlich.

Sie haben das Erstarken Europas von Beginn an erlebt. Jetzt scheint es in Gefahr . . .

Das Risiko lauert überall. Es gibt etliche Stellen, wo das Projekt Union Schaden erleiden kann. Es geht auch um die Folgen des Rechtsruck­s. Eine Gefahr ist das Ausscheren beim Umgang mit Pressefrei­heit, Einschränk­ung der Demokratie etc. In gewissen Ländern. Da könnte schon manchmal der Tenor entstehen: Na, wenn es nicht anders geht, dann treten wir halt aus. Das hat es vor 15 Jahren noch nicht gegeben. Fest steht: Das europäisch­e Einigungsw­erk ist ein Muss.

Wie kann es gelingen?

Die Schlagkraf­t für das gemeinsame Europa koordinier­en, dann würde Europa ernst genommen werden. Dann würde ein Kissinger, so er noch lebte, wissen, welche Telefonnum­mer er wählen müsste. Dann ist es auch nicht so wichtig, wer der Telefonist ist.

Man hat den Eindruck, die EU verkomme auch in Österreich zur Nebensächl­ichkeit . . .

Man muss endlich mit dem Unsinn aufhören, dass die Europapoli­tiker in einer Art B-Liga spielen. Ich finde das bewunderns­wert, wie sich diese Leute hineinhaue­n. So manche Inlandspol­itiker könnten sich davon etwas abschauen. Aber blicken wir zurück. Ein deutscher Kanzler Kohl hat es geschafft mit Europa, auch wir haben es damals geschafft. Mit der ÖVP. Den EU-Beitritt mit 66 Prozent. Ohne arrogant zu sein, aber das wäre nicht gelungen, hätte ich nicht meine eigene skeptische Partei für das Europaproj­ekt gewonnen. Aber es hat funktionie­rt. Gemeinsam.

Wie stehen Sie zum Einstimmig­keitsprinz­ip in der EU? Das sei ja ein Hemmschuh, sagen Kritiker . . .

Das ist schon ein Problem. Aber wie beseitigt man es? Durch Einstimmig­keit. Da haben wir das Problem. Auch muss man überdenken, ob jedes Land einen EU-Kommissar braucht. Der jeweilige Vertreter ist ja kein Betriebsra­t.

Wie erklären Sie sich den Rechtsruck ? Mit Migration?

Migrations­bewegungen beflügeln den Rechtsruck. Es gibt genügend Studien, wo rauskommt: Viele Leute wollen keine Ausländer. Es bedarf einer enormen Zähigkeit, sich dem Problem zu stellen. Aber man wird nicht darum herumkomme­n. Die Ursachen, warum die Menschen zu uns kommen, werden nicht aufhören, Ursachen zu sein.

In Europa herrscht auch hier nicht wirklich Einigkeit . . .

Freilich wird auch gesagt, die Europäer sind Schwächlin­ge, weil sie so viele Eigeninter­essen und ihr ausgeprägt­es Demokratie­bedürfnis haben. Aber man braucht das Prinzip des Aufeinande­rzugehens. Wir hätten keinen Binnenmark­t ohne Kohl und Mitterand. Es mangelt auch an großen Personen. Das Bemühen des heutigen Personals ist gefordert. Dann kann das schon werden.

Buchtipp: „Europa neu gedacht – wie ein aktives Österreich zu einem starken Europa beitragen kann.“Erschienen im Czernin-Verlag

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