Die ganz neue Solidarität
Der erste Lockdown war „wie eine tiefe Zäsur“, sagt Medizinethiker Ulrich Körtner. Was sich dann zeigte? Eine ganz neue Solidarität.
Wie erlebten Sie 2020? Der erste Lockdown war eine Zäsur, ein Ausnahmezustand. Wir waren alle nicht vorbereitet, wurden aus dem Leben geworfen, mussten uns neu organisieren. Viele sahen das als tiefen Bruch – aber auch positiv im Sinne eines Anstoßes für eine globale epochale Wende unseres Lebensstils.
Und, hielt der Optimismus?
Demokratische und freiheitliche Gesellschaften lassen sich nicht so leicht verändern. Die Sehnsucht war groß, so rasch wie möglich zum alten Leben zurückzukehren.
Gab es auch etwas Gutes?
Im ersten Lockdown zeigte sich eine neue Solidarität: Man sah viele großartige Beispiele, Nachbarschaftshilfe etwa – und auch, auf welche Berufe es ankommt. Es entstand eine Art nationale Empathie und Euphorie: Da wurde „I am from Austria“gespielt und geklatscht. Die Politik übte den nationalen Schulterschluss.
Unüblich für die Politik.
Ja, das hat sich aber auch wieder gelegt. Auch in der Politik kehrte ein Stück weit wieder der Alltag ein.
Ist das Miteinander der Menschen geblieben?
Die anfängliche Solidarität hat abgenommen. Wir sind die Menschen geblieben, die wir immer waren. Das Virus hat auch nicht alle gleich getroffen. Menschen verloren ihre Jobs, saßen isoliert oder beengt in kleinen Wohnungen, waren häuslicher Gewalt und unterschiedlich großen Gesundheitsrisiken ausgesetzt: Es macht eben einen Unterschied, wie man wirtschaftlich aufgestellt ist. Da hat die Politik manches und manche zu wenig bedacht. So wurde aus „Was kann ich tun, um andere zu schützen“wieder mehr ein „Meine Freiheiten, meine Rechte“– und wie ich Schlupflöcher finde.
Sind wir also wieder die Bösen, die wir immer waren?
Es gibt Egoismus, Bequemlichkeit und Zynismus. Es gibt aber auch Kräfte des Guten in uns. Die gilt es zu mobilisieren.
Was nehmen wir jetzt mit?
Die Aufgabe, mehr Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl zu spüren, damit wir gemeinsam Herr der Lage werden. Impfen etwa, damit tut man nicht nur sich etwas Gutes. Anders bekommen wir die Pandemie nicht in den Griff.
Was stünde politisch an?
Zuerst eine Kommunikation mit der Bevölkerung auf Augenhöhe statt mit Babyelefant, ein Erwachsener ist kein Kleinkind. Dann sollte man den Umgang mit dem Tod überdenken. Anfangs sagte Kanzler Kurz, es werde bald jeder jemanden kennen, der an Corona gestorben ist. Das trat zunächst nicht ein. Inzwischen sind aber mehr als 6000 Menschen gestorben. Dahinter stehen Schicksale, Leute, die trauern. Das geriet zu sehr in den Hintergrund. Hier erwarte ich mir deutlich mehr von der Politik. Und wir müssen uns auch wieder mit anderen Themen beschäftigen, Probleme wie der Klimawandel sind ja nach wie vor da.
Was gibt es dem Einzelnen für 2021 zu raten?
Suchen Sie sich eine Quelle der Zuversicht, des Mutes, um gut durchs neue Jahr zu gehen. Wichtig wären auch Nachsicht und Barmherzigkeit – damit wir gemeinsam agieren und nicht nur Sündenböcke suchen.
Was wünschen Sie sich?
Dass ich endlich wieder vor meinen Studenten stehen und lehren kann – nicht nur über das Internet!