DER CHAMPIONMACHER
Von Vettel bis Verstappen, von Ricciardo bis Sainz: Seit 15 Jahren formt Franz Tost in der Formel 1 Rennfahrer zu Siegertypen. Was sie mitbringen müssen und was er dann tut, erklärt er uns hier persönlich.
SPREU UND WEIZEN
Alle Fahrer, die zu uns kommen, müssen überdurchschnittliches Talent besitzen. Ansonsten ist der Versuch, sie auszubilden, uninteressant. Jetzt die Crux: Es ist nicht gesagt, dass Fahrer, die in der Formel 3 brillieren, auch in der Formel 1 top sein werden. Ich schaue mir möglichst viele Rennen in kleineren Kategorien an, um eine fundierte Basis hinter diesen Auswahlprozess legen zu können. Talent bedeutet natural
speed: das Abschätzen der Geschwindigkeit in Relation zum Griplevel, den perfekten Bremspunkt, das richtige Einlenken, das Einschätzen, wie viel Geschwindigkeit man zum Kurvenscheitel mitnehmen kann, um danach optimal beschleunigen und möglichst viel Speed auf die nächste Gerade mitnehmen zu können. Diese Fähigkeit hat ein Youngster, oder er hat sie eben nicht. Anhand der Datenaufzeichnungen ist jede Runde transparent. Zusätzlich halte ich mich bei Tests viel auf der Strecke auf, um die Fahrer zu studieren und zu schauen, was sie noch besser machen können.
Jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen: Wir geben dem Rennfahrer Anweisungen, was er fahrerisch ändern muss, um eine bessere Zeit zu erzielen, zum Beispiel: Brems in dieser Kurve früher und lenk sanfter ein, um besser zum Scheitelpunkt zu kommen und früher aufs Gas zu können. Der talentierte Fahrer setzt das nach zwei bis drei Runden um. Der weniger talentierte braucht länger. Ich sage meinen Fahrern: Der Kindergarten ist vorbei. In der Formel 1 beginnt die harte Arbeit. Und dazu gehört das Talent, Anweisungen rasch und gut umzusetzen. Einem Vettel, Verstappen oder Ricciardo musste man nichts zweimal sagen.
Jetzt die schlechte Nachricht: Es gab zig Top-Talente in der Formel 1, die fahrerisch das Zeug zum Weltmeister gehabt hätten. Doch sie sind nie auch nur in die Nähe eines Grand-Prix-Sieges gekommen, weil eine einzige Zutat gefehlt hat, nämlich diese:
„WORAN MAN KÜNFTIGE CHAMPIONS ERKENNT? SIE SETZEN INPUTS BEREITS NACH ZWEI, DREI RUNDEN UM.“
LEIDENSCHAFT UND EGO DISZIPLIN UND MORTADELLA
Wer es in die Formel 1 schafft, muss ihr alles unterordnen. Rennfahren muss in dieser Lebensphase absolute Priorität haben – 365 Tage im Jahr. Aus diesem Grund arbeite ich sehr gerne mit extremen Egoisten zusammen. Nur die schaffen es, sich so radikal am Riemen zu reißen. Sie wissen, was sie für den Erfolg brauchen, setzen ihren Willen durch und lassen sich durch nichts ablenken. Wer auf der Rennstrecke seiner Freundin zuhört, hat schon verloren. Champions hören aufs Team, sonst auf keinen.
Max Verstappen war diesbezüglich dank der guten Arbeit seines Vaters und der vielen Siege in Nachwuchsklassen vielleicht auf dem höchsten Niveau all meiner Fahrer. Als Gegenbeispiel muss ich Sébastien Buemi nennen: sauschnell, fleißig und diszipliniert, aber in entscheidenden Momenten fehlte die Nervenstärke. Dass man sich an Regeln hält, ist Grundvoraussetzung. An der Spitze geht es um etwas viel Schwierigeres: die Kontrolle der eigenen Gefühle und Neigungen. Das ist ein Entwicklungsprozess, und wer es schneller kapiert, wird erfolgreicher sein. Ein Beispiel: Im Qualifying, wo es um die eine schnellste Runde geht, wollen viele Jungs später bremsen. Was passiert? Sie wollen zu viel, verpassen den Scheitelpunkt und verlieren erst recht Zeit oder landen im Kiesbett.
Ernährung fällt ebenfalls unter Disziplin. Ernährung ist mir extrem wichtig. So gut eine Mortadella auch aussieht oder schmecken mag: Auf dem Teller meiner Fahrer hat sie nichts verloren. Viele junge Fahrer wissen das nicht, man muss ihnen beibringen, wie sie ihren Körper bestmöglich tunen. Darum ist es wichtig, die Piloten gut zu kennen, viel Zeit mit ihnen zu verbringen, um sie bestmöglich durch die Ablenkungen des Formel-1-Lebens zu leiten. Manche muss man dabei anstacheln, andere eher bremsen. Nur weil es Fahrer A so gemacht hat, muss es nicht auch für Fahrer B richtig sein. Daniel Ricciardo war hinter seinem fröhlichen Wesen ein wahnsinnig disziplinierter, harter Arbeiter, sehr lernfähig, intelligent und fokussiert. So hat er einst seinen sauschnellen Teamkollegen JeanÉric Vergne geschlagen und ist zu Red Bull Racing aufgestiegen, während Jean-Éric heute Formula E fährt. Carlos Sainz ist durch seine harte Arbeit dem FerrariTeam aufgefallen, für das er ab 2021 fahren wird. Disziplin bedeutet nicht unbedingt, in die Nähe der Fabrik zu ziehen und jeden Morgen um 5.30 Uhr mit mir laufen zu gehen. Jeder muss das tun, was ihn am leistungsfähigsten macht – konsequent.
PASSAGIERE UND PILOTEN
Ich will einen Fahrer drei Jahre lang im Team haben. Das erste Jahr vergeht wie im Flug. Junge Fahrer haben keine Chance, Schritt zu halten. Sie hören das nicht gerne, aber am Anfang sind sie bloß Passagiere in der Formel 1, die aufgrund ihrer guten Ausbildung in Kart und kleineren Serien in der Lage sind, Formel-1-Autos zumindest auf der Straße zu halten. Mehr nicht. Der Rest überfordert sie.
Sie müssen Informationen aufsaugen und abspeichern, gern auch aufschreiben, wie es ein Sebastian Vettel gemacht hat. Dieser Grundstock an Wissen ist die Basis für das zweite Jahr, und nun müssen sie nur noch die Neuerungen lernen: ein anderes Auto, Veränderungen im Reglement, eine frisch asphaltierte Kurve. Ich sage ihnen: Es wird niemals einen Punkt geben, an dem sie alles wissen, nicht einmal als altgedienter Mehrfach-Weltmeister.
Im zweiten Jahr sollten sie dann auch schon besser mit Marketing und Presse zurechtkommen. Die Gefahr diesbezüglich ist, Fahrer mental zu überfordern. Wir müssen vermeiden, dass sie am Sonntag geistig müde ins Cockpit steigen. Daher gibt es bei AlphaTauri ab Mittwochnachmittag keine Aktivitäten für meine Fahrer. Sie müssen sich konzentrieren. Selbst die unvermeidlichen Samstagtermine für Sponsoren müssen um 20.30 Uhr abgeschlossen sein. Auch wenn der Fahrer dann noch nicht ins Bett geht: Er muss seine mentalen Kräfte bündeln und die Eindrücke verarbeiten. Wer zum zweiten Mal in China oder Australien ist, steckt das bereits leichter weg als beim ersten Mal. Im dritten Jahr muss der Fahrer bereit sein, in ein Top-Team aufzusteigen. Was passiert, wenn jemand seine Grundausbildung zu rasch hinter sich bringt, sieht man an Daniil Kvyat und Pierre Gasly, die jetzt wieder bei uns sind. Der Druck bei Red Bull Racing ist eine ganz andere Nummer, das kann man leicht unterschätzen. Positives Beispiel: Wenn sich Alex Albon im bisherigen Tempo weiterentwickelt, wird er ein Top-Fahrer werden.
LIEBE UND INTELLIGENZ
Champions sind Perfektionisten. Stundenlang an der perfekten Sitzposition zu tüfteln ist nicht kindisch, sondern normal. Das Gleiche gilt für die Abstimmung des Fahrzeugs. Champions wissen, welche Teile am eigenen Auto und an jenem des Teamkollegen verbaut sind, denn er ist immer der erste Gegner. Nur wer Zeit mit den Mechanikern und Ingenieuren verbringt, wer nach dem letzten Meeting noch einmal in die Garage zu seinem Auto geht, kennt all die Winzigkeiten. Nächster Punkt: Man muss Strecken und Gegner verstehen lernen. Wer bremst wie, wie hoch war die Streckentemperatur im letzten Jahr im Vergleich zu diesem, und was heißt das für meinen Fahrstil? Das ist Arbeit, das ist anstrengend; aber ich garantiere, dass jene, die das auf die leichte Schulter nehmen, nicht lange im Geschäft bleiben.
Um die Wichtigkeit dessen zu verstehen, braucht man Intelligenz, und Sebastian Vettel war in dieser Hinsicht ein Vorbild. Hinterfragte alles, stellte sich nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden. Es ist kein Wunder, dass er viermal Weltmeister wurde.